Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
wichtigen Termin und wurde wütend, weil er der Meinung war, sein Job wäre wichtiger als meiner. Wir fingen an zu streiten, und am Ende ging Mårten einfach los und ließ mich mit Vincent allein. Ich wusste, dass ich schon wieder zu spät zu einer Besprechung käme, und als Vincent zu allem Überfluss einen seiner Wutanfälle bekam, konnte ich nicht mehr. Ich habe mich im Klo eingesperrt und geheult. Vincent klopfte weinend an die Tür, aber nach ein paar Minuten wurde es still. Ich dachte, er wäre in sein Zimmer gegangen. Also wusch ich mir noch in Ruhe das Gesicht und beruhigte mich ein wenig.«
Ebba sprach so schnell, dass sich ihre Worte beinahe überschlugen. Anna hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um sich den Rest zu ersparen. Andererseits war sie es Ebba schuldig, dass sie ihr zuhörte.
»Ich kam gerade aus dem Bad, als es in der Einfahrt knallte. Kurz darauf schrie Mårten. So einen Schrei habe ich noch nie gehört. Er schien gar nicht von einem Menschen zu stammen. Eher von einem verwundeten Tier.« Ebbas Stimme wurde brüchig. »Ich begriff sofort, was los war. Ich wusste, dass Vincent tot war, ich spürte es am ganzen Körper. Trotzdem raste ich raus. Da sah ich ihn hinter unserem Auto. Er hatte seinen Schneeanzug nicht an, und obwohl ich sah, dass er tot war, musste ich die ganze Zeit daran denken, dass er ohne warme Kleidung im Schnee lag. Er würde sich erkälten. Das habe ich gedacht, als ich ihn da liegen sah. Dass er sich erkälten würde.«
»Es war ein Unfall«, sagte Anna leise. »Es war nicht deine Schuld.«
»Doch. Mårten hat recht. Ich habe Vincent umgebracht. Wäre ich nur nicht ins Bad gegangen, hätte ich doch bloß darauf gepfiffen, dass ich zu spät zu dieser Besprechung kam, hätte ich nur nicht …« Das Weinen ging in ein Heulen über. Anna zog sie noch fester an sich, strich ihr übers Haar und murmelte tröstende Worte. Sie spürte Ebbas Trauer im ganzen Körper. Für eine Weile verdrängte sie sogar die Angst davor, was mit ihnen passieren würde. In diesem Moment waren sie nur zwei Mütter, die beide ein Kind verloren hatten.
Als die Tränen versiegten, versuchte Anna erneut aufzustehen. Jetzt trugen sie ihre Beine. Aus Angst, irgendwo anzustoßen, erhob sie sich vorsichtig. Sie konnte sich ganz aufrichten. Tastend machte sie einen Schritt nach vorn. Sie schrie laut, als etwas ihr Gesicht berührte.
»Was ist?« Ebba klammerte sich an Annas Bein.
»Irgendwas hat mein Gesicht gestreift, wahrscheinlich Spinnweben.« Zitternd hob sie die Hand. Dort hing etwas. Sie versuchte mehrmals vergeblich, danach zu greifen, aber schließlich bekam sie es zu fassen. Eine Schnur. Vorsichtig zog sie daran. Das Licht war so grell, dass sie die Augen schließen musste.
Nach einer Weile sah Anna sich verblüfft um. Ebba, unten auf dem Boden, schnappte nach Luft.
Jahrelang hatte Sebastian es genossen, die Macht zu haben, sogar dann, wenn er bewusst keinen Gebrauch davon machte. Etwas von John zu verlangen wäre zu gefährlich gewesen. John war nicht mehr derselbe, den Sebastian auf Valö gekannt hatte. Obwohl er es nicht offen zeigte, wirkte John so hasserfüllt, dass es dumm gewesen wäre, die Chance zu nutzen, die das Schicksal ihm bot.
Auch an Leon hatte er keine Forderungen gestellt, denn Leon war ganz einfach der einzige Mensch außer Gegenwind, vor dem Sebastian jemals Respekt gehabt hatte. Nach den Ereignissen war Leon schnell verschwunden, aber Sebastian hatte seinen Weg in den Zeitungen und dank der Gerüchte verfolgt, die bis nach Fjällbacka drangen. Nun hatte sich Leon in das Spiel eingemischt, das bislang er geleitet hatte, aber Sebastian hatte für sich persönlich so viel wie möglich herausgeholt. Josefs törichtes Projekt war nur noch eine Erinnerung. Das Grundstück und der Granit waren das einzig Wertvolle daran, und die hatte er, den Vereinbarungen entsprechend, die Josef blind unterschrieben hatte, zu Geld gemacht.
Und Percy. Sebastian lachte in sich hinein, als er den gelben Porsche durch die schmalen Straßen von Fjällbacka lenkte und jede zweite Person grüßte. Percy lebte schon so lange mit seiner eigenen Legende, dass er nicht geglaubt hatte, alles verlieren zu können. Er hatte sich zwar Sorgen gemacht, bevor Sebastian ihm wie ein rettender Engel zu Hilfe kam, aber er war vermutlich nie ernsthaft auf den Gedanken gekommen, dass er das verlieren könnte, was ihm qua Geburt zustand. Nun gehörte das Schloss Percys jüngeren Geschwistern, doch das
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