Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
nicht der Sinn nach den spitzen Bemerkungen ihrer Stieftochter.
»Weiß ich auch nicht, aber es ist so eklig mit ihr am Tisch. Mir wird kotzübel.«
Inez platzte der Kragen. »Wenn es dir so unangenehm ist, solltest du vielleicht nicht mitessen«, zischte sie.
»Inez!«
Sie zuckte zusammen. Plötzlich stand Rune mit hochrotem Kopf im Zimmer.
»Was redest du da? Soll meine Tochter etwa nicht mit uns essen?« Rune durchbohrte sie mit einem eisigen Blick. »In dieser Familie sind bei den Mahlzeiten alle willkommen.«
Annelie sagte nichts, aber Inez merkte ihr an, dass sie sich unbändig über die Zurechtweisung freute.
»Entschuldige, das war dumm von mir.« Inez drehte sich um und stellte die Kartoffeln auf den Tisch. Innerlich schäumte sie vor Wut. Am liebsten hätte sie laut geschrien, wäre ihrem Herzen gefolgt und weggelaufen. Sie wollte nicht in dieser Hölle gefangen sein.
»Ebba hat ein bisschen gespuckt.« Besorgt tupfte Johan das Kinn seiner kleinen Schwester mit einer Serviette ab. »Sie ist doch wohl nicht krank?«
»Wahrscheinlich hat sie nur zu viel Brei gegessen«, sagte Inez.
»Gut«, antwortete er skeptisch. Er wird von Tag zu Tag fürsorglicher, dachte Inez und fragte sich, warum er so anders war als seine Geschwister.
»Lammbraten. Der schmeckt bestimmt nicht so gut wie der von Mama.« Claes setzte sich neben Annelie. Sie blinzelte ihm kichernd zu, aber er ging nicht darauf ein. Eigentlich hätten die beiden dicke Freunde sein müssen, aber Claes schienen alle anderen egal zu sein. Außer seiner Mutter, von der er ständig erzählte.
»Ich habe mir große Mühe gegeben«, sagte Inez. Claes rümpfte die Nase.
»Wo bist du gewesen?« Rune griff nach der Schüssel mit den Kartoffeln. »Ich habe dich gesucht. Olle hat die Bretter, die ich bestellt habe, unten am Steg abgeladen. Du musst mir helfen, sie zum Haus zu schleppen.«
Claes zuckte mit den Schultern. »Ich war spazieren. Die Bretter hole ich nachher.«
»Gleich nach dem Essen«, sagte Rune, gab sich aber mit Claes’ Antwort zufrieden.
»Es ist nicht rosa genug.« Angewidert betrachtete Annelie das Stück Fleisch auf ihrem Teller.
Inez biss die Zähne zusammen. »Der Ofen ist nicht besonders gut. Die Temperatur ist nicht gleichmäßig. Wie gesagt, ich habe mich wirklich bemüht.«
»Ekelhaft.« Annelie schob das Fleisch an den Tellerrand. »Kann ich mal die Sauce haben?«, fragte sie Claes. Die Sauciere stand links von ihm.
»Aber sicher.« Er griff danach.
»Oje …« Er sah Inez unverwandt an. Die Sauciere war auf dem Boden zu Bruch gegangen, und die braune Sauce hatte sich auf den Dielen verteilt und sickerte durch die Ritzen. Ihre Blicke trafen sich. Inez wusste, dass er es mit Absicht gemacht hatte. Und er wusste, dass sie das wusste. »Wie ungeschickt von mir.« Rune schaute hinunter. »Das wirst du wohl aufwischen müssen, Inez.«
»Klar.« Sie lächelte. Natürlich kam er gar nicht auf die Idee, es selbst zu tun.
»Bringst du noch Sauce aus der Küche mit?«, rief Rune ihr hinterher.
Sie drehte sich um. »Mehr gibt es nicht.«
»Carla hatte immer noch ein bisschen Sauce in Reserve.«
»Schön, aber ich nicht. Ich habe alles auf einmal serviert.«
Nachdem sie auf allen vieren neben Claes gewischt hatte, setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Ihr Essen war kalt geworden, aber der Appetit war ihr sowieso vergangen.
»Es schmeckt richtig lecker, Inez.« Johan hielt ihr seinen Teller hin. »Du kannst wahnsinnig gut kochen.«
Seine Augen waren so blau und unschuldig, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Während sie ihm seinen nahezu abgeschleckten Teller noch einmal nachfüllte, fütterte er Ebba mit einem kleinen Silberlöffel.
»Hier kommt noch eine Kartoffel. Hm, ist das lecker.« Er strahlte übers ganze Gesicht, wenn sie den Mund aufmachte.
Claes lachte höhnisch. »Was bist du nur für ein Weichei.«
»Sprich nicht so mit deinem Bruder«, zischte Rune. »Er hat in allen Fächern hervorragende Noten und ist klüger als ihr beiden zusammen. Du hast dich in der Schule nicht gerade mit Ruhm bekleckert und solltest deinen Bruder höflich behandeln, bis du bewiesen hast, dass du auch etwas taugst. Deine Mutter hätte sich geschämt, wenn sie dein Abschlusszeugnis zu Gesicht bekommen hätte.«
Claes zuckte zusammen. Inez bemerkte ein unkontrolliertes Zucken an seiner Stirn. Seine Augen verfinsterten sich.
Eine Weile herrschte vollkommene Stille am Tisch. Nicht einmal Ebba gab einen Ton von sich.
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