Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
ihrem Körper war wieder abgebaut, und die Erkenntnis, dass ihre kleine Schwester möglicherweise tot war, lähmte sie. Sie wollte sich nur noch auf den Boden legen und zu einer kleinen Kugel zusammenrollen. Die Augen schließen, einschlafen und aufwachen, wenn alles vorbei war. Wie auch immer.
Sie hatte gesehen, dass das Handy geblinkt hatte. Dan. Herrgott, er musste außer sich vor Sorge sein, seit er ihre SMS gelesen hatte. Von Patrik war jedoch keine Antwort gekommen. War er so beschäftigt, dass er ihre Nachricht nicht gesehen hatte?
Mårten musterte sie noch immer. Sein Körper war entspannt und seine Miene gleichgültig. Erica bereute, dass sie Ebba nicht noch mehr Fragen über ihren Sohn gestellt hatte. Irgendetwas musste in Bewegung gekommen sein und Mårten in den Wahnsinn getrieben haben. Hätte sie genauer gewusst, was damals passiert war, könnte sie jetzt vielleicht mit ihm reden. Sie konnten nicht einfach hier rumsitzen und tatenlos darauf warten, dass Mårten sie umbrachte. Denn sie bezweifelte nicht, dass er das vorhatte. Es war ihr in dem Moment klargeworden, als sie die kalte Glut in seinen Augen sah. Mit sanfter Stimme sagte sie:
»Erzählen Sie von Vincent.«
Zuerst reagierte er nicht. Nur Göstas Atemzüge und die Motorboote in der Ferne waren zu hören. Zum Schluss murmelte er:
»Er ist tot.«
»Was ist passiert?«
»Es war Ebbas Schuld.«
»Wieso war es Ebbas Schuld?«
»Das habe ich auch erst vor kurzem begriffen.«
Erica wurde langsam ungeduldig.
»Hat sie ihn getötet?« Sie hielt den Atem an. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Gösta aufmerksam zuhörte. »Haben Sie deshalb versucht, Ebba umzubringen?«
Mårten spielte mit dem Revolver.
»Ein so großes Feuer wollte ich nicht.« Er legte sich die Waffe wieder in den Schoß. »Sie sollte nur verstehen, dass sie mich brauchte. Dass ich derjenige war, der sie beschützen konnte.«
»Haben Sie deswegen auch auf sie geschossen?«
»Damit sie begriff, dass sie und ich zusammenhalten müssen. Aber es hat alles nichts genützt. Das ist mir jetzt klar. Sie hat mich manipuliert, ich sollte das Offensichtliche nicht erkennen. Dass sie ihn getötet hat.« Er nickte, als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen. Sein Blick jagte Erica solche Angst ein, dass sie nur mühsam die Fassung bewahrte.
»Dass sie Vincent getötet hat?«
»Ja, genau. Ich habe es verstanden, nachdem sie bei Ihnen war. Sie hat die Schuld geerbt. So viel Bosheit verschwindet nicht einfach.«
»Meinen Sie die Großmutter ihrer Großmutter? Die Engelmacherin?«, fragte Erica erstaunt.
»Ja. Ebba hat mir erzählt, dass sie die Kinder in einer Wanne ertränkt und im Keller begraben hat, weil sie dachte, wenn niemand sie wollte, würde auch niemand nach ihnen suchen. Aber ich wollte doch Vincent. Ich habe nach ihm gesucht, aber da war er schon fort. Sie hatte ihn ertränkt. Er war zwischen den anderen Kindern begraben und kam nicht wieder hoch.« Während Mårten die Worte ausspuckte, lief ihm Speichel aus dem Mundwinkel.
Erica begriff, dass es unmöglich war, mit ihm zu reden. Verschiedene Wirklichkeiten hatten sich vermengt und bildeten ein seltsames Schattenland. Man kam nicht mehr an ihn heran. Sie wurde panisch und sah zu Gösta. An seiner ratlosen Miene erkannte sie, dass er zu demselben Schluss gekommen war. Sie konnten nur noch beten und hoffen, dass sie das hier irgendwie überlebten.
»Pst.« Plötzlich richtete Mårten sich auf.
Erica und Gösta zuckten erschrocken zusammen.
»Da kommt jemand.« Mårten griff zum Revolver und sprang auf. »Pst!«, wiederholte er und legte den Zeigefinger auf die Lippen.
Er rannte ans Fenster und sah hinaus. Einen Augenblick lang blieb er dort stehen und schien zu überlegen, welche Alternativen er hatte. Dann zeigte er auf Gösta und Erica.
»Sie bleiben hier. Ich gehe jetzt. Ich muss die beiden bewachen. Sie dürfen nicht gefunden werden.«
»Was haben Sie vor?« Erica konnte nicht an sich halten. Die Hoffnung auf Hilfe vermischte sich mit der Angst um Anna, falls es für die nicht ohnehin zu spät war. »Wo ist meine Schwester? Sie müssen mir sagen, wo Anna ist.« Ihre Stimme überschlug sich.
Gösta legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.
»Wir warten hier, Mårten. Wir gehen nirgendwohin. Wir bleiben hier sitzen, bis Sie wiederkommen.« Er ließ Mårten nicht aus den Augen.
Schließlich nickte Mårten, drehte sich um und raste die Treppe hinunter. Erica wollte sofort aufstehen und hinterherrennen, aber
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