Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
war wie verrückt hinter Jungs her, aber das Interesse wurde nicht erwidert. Von gewissen Mädchen sollte man sich fernhalten, und Annelie war so eines. Außerdem hätte Rune uns erschlagen, wenn wir sie auch nur berührt hätten.«
»Was meinen Sie damit, dass sie ein Mädchen war, von dem man sich fernhalten sollte.«
»Sie lief uns nach und spielte sich furchtbar auf. Ich glaube, sie wollte uns Schwierigkeiten machen. Einmal hat sie sich direkt vor unserem Fenster oben ohne gesonnt, aber der Einzige, der geguckt hat, war Leon. Er hatte schon damals vor nichts Angst.«
»Was ist dann passiert? Hat ihr Vater sie erwischt?« Erica spürte, wie eine andere Welt sie gefangen nahm.
»Claes beschützte sie meistens. Als er sie entdeckte, zerrte er sie so unsanft weg, dass ich fürchtete, er würde ihr den Arm ausreißen.«
»Hatte sie für einen von Ihnen eine besondere Schwäche?«
»Dreimal dürfen Sie raten«, sagte John, schien dann aber zu begreifen, dass Erica keine Ahnung hatte, wen er meinte. »Für Leon natürlich. Er war ein echter Mädchenschwarm. Seine Familie war steinreich, er sah unverschämt gut aus, und von seiner Selbstsicherheit konnten wir anderen nur träumen.«
»Aber er interessierte sich nicht für sie.«
»Wie gesagt, Annelie war anstrengend und Leon viel zu klug, um sich mit ihr einzulassen.« Als im Wohnzimmer ein Handy klingelte, stand er abrupt auf. »Würden Sie mich kurz entschuldigen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er sie allein, und kurz darauf hörte sie ihn leise reden. Offenbar war sonst niemand zu Hause. Während sie auf ihn wartete, sah sie sich um. Ein Stapel Papiere auf einem Küchenstuhl erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, bevor sie vorsichtig darin zu blättern begann. Es schien sich vor allem um Reichstagsprotokolle und Tagesordnungen zu handeln, doch plötzlich hielt sie inne. Zwischen den Ausdrucken lag ein handschriftlicher Zettel, den sie nicht entziffern konnte. Als sie hörte, dass John sich im Wohnzimmer verabschiedete, ließ sie das Blatt hastig in ihrer Handtasche verschwinden und lächelte John unschuldig an.
»Alles in Ordnung?«
Er nickte und setzte sich wieder.
»Das ist der Nachteil an meinem Beruf. Ich habe nie frei, nicht mal im Urlaub.«
Erica seufzte zustimmend. Sie wollte sich nicht in eine Diskussion über seine Arbeit verwickeln lassen, bei der sie ihre politischen Ansichten nicht verbergen konnte. Eine Meinungsverschiedenheit hätte leicht den Informationsfluss gefährden können.
Sie griff wieder zum Stift. »Wie war Inez zu den Schülern?«
»Inez?« John wich ihrem Blick aus. »Wir haben sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie hatte mit dem Haushalt und ihrer kleinen Tochter alle Hände voll zu tun.«
»Aber irgendeine Beziehung müssen Sie doch zu ihr gehabt haben. Ich kenne das Haus ganz gut und weiß, dass Sie sich wahrscheinlich recht oft über den Weg gelaufen sind.«
»Natürlich haben wir Inez gesehen, aber sie war schweigsam und verschüchtert. Sie hat uns nicht beachtet und wir sie auch nicht.«
»Ihr Mann hat ihr wohl ebenfalls nicht viel Beachtung geschenkt.«
»Nein. Es war unbegreiflich, dass es einem Mann wie ihm gelungen war, vier Kinder zustande zu bringen. Wir tippten auf jungfräuliche Empfängnis.« John grinste schief.
»Wie fanden Sie die beiden Lehrer?«
»Das waren echte Originale. Bestimmt keine schlechten Lehrer, aber Per-Arne war ein ehemaliger Offizier und vielleicht noch strenger als Rune.«
»Und der andere?«
»Ove, tja … Irgendwie undurchsichtig. Ein heimlicher Homo, war die gängige Theorie. Ich frage mich, ob er sich je geoutet hat.«
Erica lachte. Sie sah Liza mit den künstlichen Wimpern und dem schönen Seidenmantel vor sich.
»Möglich«, sagte sie.
John sah sie fragend an, aber sie klärte ihn nicht auf. Es war nicht ihre Aufgabe, John Holm über Lizas Leben zu informieren. Außerdem war ihr bewusst, was Schwedens Freunde über Homosexuelle dachten.
»Haben Sie besondere Erinnerungen an die beiden?«
»Überhaupt keine. Lehrer, Schüler und Familie waren strikt voneinander getrennt. Jeder sollte in seinem Bereich bleiben. Jede Gruppe für sich.«
Ein bisschen wie bei eurer Politik, dachte Erica. Sie biss sich auf die Zunge, um nichts zu sagen. Da sie spürte, dass John langsam ungeduldig wurde, stellte sie eine letzte Frage:
»Jemand hat mir erzählt, dass nachts merkwürdige Geräusche im Haus zu hören waren. Können Sie sich daran
Weitere Kostenlose Bücher