Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
stellen, wenn sie zumindest versucht hatte, Antworten darauf zu finden. Hätte er das gesagt, bevor alles passierte, sie hätte es mit Sicherheit abgestritten, aber er selbst hatte nie daran gezweifelt, dass sie eines Tages hierher zurückkehren würden, wo alles angefangen hatte.
Als die Umstände es schließlich erforderten, dass sie sich an einen Ort flüchteten, der vertraut und fremd zugleich war, und dort ein Leben begannen, in dem es Vincent nie gegeben hatte, war er voller Hoffnung gewesen. Er hatte gehofft, dass sie zueinander zurückfinden und den Zorn und die Scham hinter sich lassen würden. Doch Ebba verschloss sich vor ihm und wies all seine Versuche ab, sich ihr zu nähern. Hatte sie das Recht dazu? Sie war nicht die Einzige, die litt und trauerte, das tat er auch, und deshalb stand ihm zu, dass auch sie sich bemühte, genauso wie er.
Mårtens Finger schlossen sich immer fester um die Tasse, als er zum Horizont blickte. Er sah Vincent vor sich. Sein Sohn war ihm ungeheuer ähnlich gewesen. Sie hatten schon in der Entbindungsklinik darüber gelacht. Eingewickelt in eine Decke, lag das Neugeborene wie eine Karikatur von ihm in der Wiege. Mit der Zeit war die Ähnlichkeit immer größer geworden, und zudem hatte Vincent seinen Vater bewundert. Im Alter von drei Jahren wich er Mårten nicht mehr von der Seite und rief immer zuerst nach seinem Papa. Ebba beklagte sich manchmal darüber. Sie fand Vincent undankbar, denn schließlich hatte sie ihn neun Monate mit sich herumgeschleppt und unter Schmerzen geboren. Das sagte sie jedoch nur im Scherz. Im Grunde freute sie sich über das enge Verhältnis von Vater und Sohn und war vollkommen zufrieden mit dem zweiten Rang.
Tränen stiegen ihm in die Augen, die er mit dem Handrücken wegwischte. Er hatte keine Kraft mehr zu weinen, denn es brachte ihn nicht weiter. Sein einziger Wunsch bestand darin, dass er und Ebba sich wieder näherkamen. Diesen Wunsch würde er niemals begraben. Er würde nicht aufgeben, bis sie endlich begriff, dass sie einander brauchten.
Mårten stand auf und ging ins Haus. Er ging die Treppe hinauf und horchte, wo sie war. Eigentlich wusste er es bereits. Wie immer, wenn sie nicht am Haus arbeiteten, saß sie hochkonzentriert an ihrem Tisch und fertigte ein silbernes Schmuckstück an. Er trat ins Zimmer und stellte sich hinter sie.
»Hast du eine Bestellung reinbekommen?«
Sie zuckte zusammen. »Ja.« Dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.
»Was ist das für ein Kunde?« Wut auf ihre Gleichgültigkeit stieg in ihm auf, und er musste sich beherrschen, um nicht loszubrüllen.
»Sie heißt Linda. Ihr Sohn ist mit vier Monaten am plötzlichen Kindstod gestorben. Er war ihr erstes Kind.«
»Aha.« Er wandte sich ab. Es war ihm ein Rätsel, woher sie die Kraft nahm, all diese Geschichten an sich heranzulassen, die Trauer all dieser fremden Eltern. War ihre eigene Trauer nicht schon schwer genug? Ohne hinzusehen wusste er, dass sie ihren Engelanhänger um den Hals trug. Sie hatte ihn als Ersten angefertigt und trug ihn ständig. Auf der Rückseite war Vincents Name eingraviert. Manchmal hätte Mårten ihr die Kette am liebsten abgerissen. In diesen Momenten fand er, sie hätte es nicht verdient, den Namen ihres Kindes am Leib zu tragen, aber es gab auch Augenblicke, in denen er nichts lieber wollte, als dass Vincent ihr ganz nah war. Warum musste alles so schwierig sein? Was würde passieren, wenn er endlich losließ, sich mit der Vergangenheit versöhnte und zugab, dass es ihre gemeinsame Schuld war?
Mårten stellte seinen Teebecher auf ein Regal und machte einen Schritt auf Ebba zu. Zuerst zögerte er, doch dann legte er ihr die Hände auf die Schultern. Sie erstarrte. Sanft begann er, sie zu massieren. Sie war genauso verspannt wie er. Schweigend starrte sie vor sich hin. Ihre Hände, die eben noch an dem silbernen Engel gearbeitet hatten, ruhten auf der Tischplatte. Nur ihre Atemzüge waren zu hören. Leise Hoffnung keimte in ihm auf. Er berührte Ebba und fühlte ihren Körper unter seinen Fingerspitzen. Vielleicht gab es doch einen Weg nach vorn.
Plötzlich stand Ebba auf. Ohne ein Wort ging sie weg und ließ ihn mit den Händen in der Luft zurück. Eine Weile stand er so da und betrachtete ihren vollen Arbeitstisch. Dann machte sein Arm wie von selbst eine ausladende Kreisbewegung und fegte alle Gegenstände auf den Fußboden. In der darauffolgenden Stille wurde Mårten klar, dass es nur noch einen Ausweg gab. Er musste
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