Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
erinnern?«
John zuckte zusammen. »Wer hat das gesagt?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Unsinn.« John stand auf.
»Ihnen ist davon also nichts bekannt?« Sie musterte ihn.
»Nicht im Geringsten. Und nun muss ich leider telefonieren.«
Erica sah ein, dass sie hier nicht weiterkommen würde, zumindest im Moment nicht.
»Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.« Sie packte ihre Sachen ein.
»Keine Ursache.« Er hatte seinen Charme wieder angeknipst, scheuchte sie aber beinahe hinaus.
Ia zog Leon Slip und Hose hoch und half ihm von der Toilette in den Rollstuhl.
»Jetzt verzieh nicht so das Gesicht.«
»Warum schaffen wir uns nicht endlich eine Pflegerin für diese Dinge an?«, fragte Leon.
»Ich will mich selbst um dich kümmern.«
»Dein Herz fließt über vor Güte.« Leon schnaubte. »Du machst dir noch den Rücken kaputt. Wir brauchen jemanden, der dir zur Hand geht.«
»Es ist lieb von dir, dass du dir solche Sorgen um meinen Rücken machst, aber ich will hier keine Fremde, die sich … aufdrängt. Du und ich, wir schaffen das allein. Bis dass der Tod uns scheidet.« Ia streichelte seine gesunde Gesichtshälfte, aber er drehte sich weg und sie zog die Hand zurück.
Er entfernte sich in seinem Rollstuhl, und sie setzte sich aufs Sofa. Sie hatten das Haus möbliert gekauft und heute endlich Zutritt erhalten, nachdem die Bank in Monaco ihnen gestattet hatte, eine so große Summe abzuheben. Sie hatten alles bar bezahlt. Vor dem Fenster lag Fjällbacka, und Ia genoss die phantastische Aussicht mehr, als sie erwartet hatte. Aus der Küche hörte sie Leon fluchen. Da die Einrichtung überhaupt nicht behindertengerecht war, stieß er ständig gegen Türen und Schränke.
»Ich komme«, rief sie, stand aber nicht gleich auf. Manchmal war es besser, ihn ein bisschen warten zu lassen. Damit er ihre Hilfe nicht als selbstverständlich ansah. So wie früher ihre Liebe.
Ia betrachtete ihre Hände. Sie waren genauso mit Narben bedeckt wie Leons. Wenn sie unter Leuten war, trug sie immer Handschuhe, aber zu Hause ließ sie ihn gern die Wunden sehen, die sie sich zugezogen hatte, als sie ihn aus dem brennenden Auto zog. Dankbarkeit – mehr verlangte sie gar nicht. Die Hoffnung auf Liebe hatte sie längst aufgegeben. Sie wusste gar nicht, ob Leon überhaupt noch in der Lage war, einen anderen Menschen zu lieben. Vor langer Zeit hatte sie daran geglaubt. Damals war seine Liebe alles gewesen, was zählte. Wann war diese Liebe in Hass übergegangen? Sie wusste es nicht. Jahrelang hatte sie den Fehler bei sich gesucht, hatte sich bemüht, seine ständige Kritik zu beherzigen und ihm das zu geben, was er zu begehren schien. Trotzdem hatte er sie weiterhin gequält, als wollte er ihr absichtlich weh tun. Gebirge, Meere, Wüsten und Frauen. Es war vollkommen egal. Sie waren seine Geliebten. Und sie hatte sehnsüchtig auf ihn gewartet.
Sie berührte ihr Gesicht. Es war glatt und ausdruckslos. Plötzlich erinnerte sie sich an die Schmerzen nach den Operationen. Nie war er da gewesen, um beim Aufwachen ihre Hand zu halten. Der Heilungsprozess zog sich endlos in die Länge. Wenn sie heute in den Spiegel sah, erkannte sie sich selbst nicht wieder, aber nun brauchte sie sich nicht mehr anzustrengen. Es gab keine Berge mehr, die Leon besteigen, keine Wüsten, die er durchqueren, und keine Frauen, für die er sie verlassen konnte. Er gehörte ihr, nur ihr allein.
Mårten streckte sich mit verzerrtem Gesicht. Von der nicht enden wollenden Arbeit tat ihm der ganze Körper weh, und er hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte, keine Schmerzen zu haben. Er wusste, dass es Ebba genauso ging. Wenn sie sich unbeobachtet glaubte, massierte sie sich oft die Schultern und Glieder und schnitt dabei die gleichen Grimassen wie er.
Doch der Schmerz in der Seele war schlimmer. Mit ihm mussten sie Tag und Nacht leben, und die Sehnsucht war so groß, dass sie weder Anfang noch Ende hatte. Er vermisste jedoch nicht nur Vincent, sondern auch Ebba. Die Wut und die Schuldgefühle, von denen er sich nicht befreien konnte, machten es nur noch schlimmer.
Er saß mit einem Becher Tee auf der Treppe und sah übers Wasser nach Fjällbacka hinüber. Im goldgelben Licht der Abendsonne war die Aussicht am schönsten. Irgendwie hatte er immer gewusst, dass sie hierher zurückkehren würden. Auch wenn er Ebba glaubte, dass ihre Kindheit schön gewesen war, hatte er manchmal geahnt, dass sie erst dann aufhören würde, sich bestimmte Fragen zu
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