Die Engelsmuehle
modernen Gemälden an den Wänden erinnerte der Raum eher an ein Wohnzimmer. Fehlten noch der Kamin und das Fernsehgerät. Durch das hohe Fenster sah er auf den Springbrunnen und den mit Kieselsteinen bedeckten Parkplatz, wo sein Wagen unter der Linde stand.
Linda Bohmann saß hinter ihrem Schreibtisch und lächelte Tatjana zu. Hogart erkannte sie sofort als jene Frau, die er auf dem Video gesehen hatte, nur dass er sie mittlerweile zehn Jahre älter schätzte. Noch mehr als auf dem Video erschien sie ihm jetzt als Dame, wahrhaft als Lady: dezent geschminkte Wimpern, mandelfarbene Augen, eine schmale Lesebrille mit einem Lederband, das brünette Haar zu einem Knoten gebunden. Links und rechts fielen ihr ein paar Strähnen ins Gesicht. Sie trug einen cremefarbenen Pullover mit Zopfmuster und eine einfache holzfarbene Modeschmuckkette um den Hals.
Bohmann legte einen Kugelschreiber beiseite und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Sie saß in einem Rollstuhl, den sie händisch bediente und geschickt um die Kurve lenkte. Über ihren Beinen lag eine Decke. Als Tatjana das Gefährt sah, zuckte sie merklich zusammen. Hogart war ein Idiot. Er hätte ihr davon erzählen sollen, bevor sie die Akademie betreten hatten, doch jetzt war es zu spät.
»Willkommen in der Abteilung für moderne Kunst. Wir haben etwa vierzig Minuten Zeit, bevor mein nächstes Seminar beginnt.« Bohmann reichte zuerst Tatjana, danach Hogart die Hand.
Die harten, aufgerauten Finger und der kräftige Händedruck überraschten ihn. Doch als er ihre starken Oberarme sah, die sich unter dem Pullover abzeichneten, wurde ihm klar, dass die Frau damit lebte, sich ständig aus dem und in den Rollstuhl zu hieven.
Bohmann füllte drei Gläser mit Traubensaft aus einer Karaffe, während sie über die Akademie erzählte. Wolfram Priola war seit fünfzehn Jahren der Rektor dieser Kunsthochschule. Das Studium dauerte acht Semester und gliederte sich in zwei Studienabschnitte mit jeweils einer Diplomprüfung. Zwar standen nur drei Studienzweige zur Auswahl, doch ergänzend wurden Exkursionen angeboten, Projektarbeiten, freie Wahlfächer, künstlerischer Einzelunterricht und Auslandspraktika, deren Teilnehmerzahl allerdings beschränkt war. Nach erfolgreicher Diplomarbeit wurde das Studium mit einem Mag. art. abgeschlossen.
Professor Bohmann reichte Tatjana eine Mappe mit den aktuellen Lehrveranstaltungen und sämtlichen Anmeldeformularen.
»Die nächste Zulassungsprüfung findet im September statt. Dazu benötigen wir eine Werkmappe mit Arbeitsproben, um Ihre kreative Begabung und künstlerische Eignung festzustellen. Danach folgt eine Klausurarbeit mit abschließendem Gespräch. Nachdem Sie auch das bestanden haben, brauchen wir von Ihnen einen Staatsbürgerschaftsnachweis, Meldezettel, einen Lichtbildausweis, ein Reifezeugnis und zwei Fotos für die Anmeldung an der Akademie.«
Und eine Urinprobe, fügte Hogart in Gedanken dazu.
Tatjana hörte aufmerksam zu, bis sie schließlich auf ein wuchtiges Gemälde deutete, das hinter Bohmann an der Wand hing. »Haben ,%das gemalt?«
»Die anderen schon, doch das stammt von meiner Schwester«, antwortete Bohmann, ohne sich umzudrehen. »Öl auf Leinwand. Es ist eines ihrer älteren Werke. Ich habe schon lange nichts mehr gemalt. Der Unterricht hält mich auf Trab, und die Sommermonate brauche ich, um mich zu entspannen.«
Hogart betrachtete das Gemälde. Durch den breiten verschnörkelten Rahmen wirkte es doppelt so groß. Das Bild sah überhaupt nicht wie ein Exemplar der modernen Kunst aus. Es zeigte einen von Knorpeln überwucherten alten Baumstamm, der schräg durch das Bild wuchs und mit Tausenden schweren Nägeln beschlagen war. Hinter dem düsteren Monument waren nur dunkle Farbtöne zu erkennen, die von blau über grau bis schwarz reichten und sowohl als Wald, aber auch ebenso gut als die Silhouette einer mittelalterlichen Stadt gedeutet werden konnten.
»Das Gemälde stellt den Stock im Eisen dar. Kennen Sie die Legende?«
Hogart nickte, doch Tatjana schüttelte den Kopf, worauf Bohmann ihr die alte Wiener Sage aus dem sechzehnten Jahrhundert erzählte, in der es, wie damals so oft, um eine Wette mit dem Teufel ging. Ein hitzköpfiger Schmiedgeselle meinte, er sei in der Lage, ein Schloss zu schmieden, das der Teufel unmöglich öffnen könne. Der Geselle legte einen eisernen Ring um einen Baum, hing ein Schloss daran und warf den Schlüssel in die Donau. Nächtelang arbeitete der Teufel vergebens an dem
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