Die Engelsmuehle
als nur die gepiercte Bassistin in einer Punkband, die am Sandsack trainierte und ein Motocross-Moped fuhr. Mit einem Mal wirkte sie so erwachsen.
Für einen Moment herrschte tiefes Schweigen. Linda Bohmann warf einen Blick zur Wanduhr. Ihre Zeit war beinahe um. Sie sah die beiden fragend an, doch es gab nichts mehr zu besprechen. Schließlich fuhr Bohmann zur Tür, als wolle sie ihre Gäste hinausbegleiten, doch ein Klopfen von draußen ließ sie in der Bewegung verharren.
Ein junger Mann betrat das Büro.
»Die Post«, murmelte er knapp und legte der Dozentin einen Stapel Briefe und Broschüren in den Schoß. Obenauf lag die gefaltete Ausgabe der Morgenzeitung. Primär Abel Ostrovskys Bild und die Schlagzeile über den bestialischen Mord erinnerten Hogart daran, weshalb sie eigentlich hier waren. Der Botengang des Jungen hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erfolgen können.
»Eine schreckliche Sache.« Hogart deutete auf die Zeitung.
Bohmann sah ihn fragend an, dann schlug sie das Blatt auf und las die Überschrift.
»Angeblich war Ostrovsky einer der besten Neurochirurgen«, fügte Hogart hinzu, doch auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung.
»Die Welt ist verroht, aber wenn sie klar wäre, gäbe es keine Kunst.« Linda Bohmann klappte die Zeitung wieder zu und reichte ihnen die Hand. Mehr würden sie im Moment nicht aus ihr herausbekommen.
Als sie durch den Korridor zum Ausgang marschierten, sah Hogart seine Nichte schief an. »Etwas Besseres als Automechaniker ist dir nicht eingefallen?«
»Restaurator von Oldtimern«, korrigierte sie ihn. »Worüber regst du dich eigentlich auf? Wir haben doch einiges herausgefunden!«
»Sag bloß, dieser Gemäldequatsch interessiert dich wirklich.«
•»Tu nicht so!« Tatjana kniff die Augenbrauen zusammen. »Ich finde cool, was die macht. Nicht so ein Barockscheiß, sondern echte, intellektuelle Kunst.«
»Cool? Warst du schon mal auf einer Vernissage?«
»Nein.«
»Da laufen nur Spinner rum.« Hogart rümpfte die Nase. »Flache Gespräche bei Kaviarbrötchen und Cocktails, Fototermine für die Presse, Interviews für die Kulturnachrichten, Küsschen auf die Wange.«
»Sonst hast du keine Vorurteile, oder?« Tatjana warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu. »Dabei wurde uns soeben erklärt, dass Malerei genauso viel mit Kunst wie mit Handwerk zu tun hat. Außerdem sagte Bohmann, die Ausstellung ihrer Schwester sei in der Michaeiergruft. Wir waren mal mit der Schule dort. Da verirrt sich bestimmt kein High-Society-Reporter hin. Nimmst du mich heute Abend mit?«
Hogart blieb abrupt stehen. »Wer sagt, dass ich hingehe?«
»Ich kenne dich doch! Bei deiner offensichtlichen Abneigung willst du mich nur loswerden, um allein hinzugehen.«
»Du kleines …« Hogart verstummte, als Priola ihnen entgegenkam.
»Und? Waren Sie zufrieden?«, rief der Rektor von Weitem.
»Professor Bohmann ist eine tolle Frau«, sagte Hogart rasch, bevor Tatjana wieder ihre Geschichte mit der lesbischen Exfrau und dem Marionettenladen in Amsterdam anbringen konnte. Im Geiste sah er Linda Bohmann vor sich. In diesem Moment merkte er, dass seine Gefühle Linda gegenüber mehr als ambivalent waren. Einerseits wurde er das Gefühl nicht los, dass sie etwas verheimlichte, andererseits würde er keine Sekunde zögern, dieser Frau seine Nichte für eine geeignete Berufsausbildung anzuvertrauen, selbst wenn es sich dabei nur um das brotlose Gewerbe der Malerei handelte.
»Sie hat uns viel über sich erzählt«, ergänzte Tatjana mit einer Spur Stolz in der Stimme, als strebe sie danach, Professor Bohmanns Karriere nachzueifern.
»Tatsächlich?« Priola sah sie verwundert an. »Seit der Sache mit ihren Eltern spricht sie selten von sich.«
Plötzlich ging Hogart ein Licht auf. »Ihr Vater war doch nicht etwa Ernest Bohmann, der Verleger?«
»Doch, Inhaber des Bohmann-Verlags. Juristische Bücher und Fachzeitschriften. Sie kannten ihn?«
»Nur aus der Presse.« Hogart versuchte, sich zu erinnern. »Er starb vor etwa drei Jahren …«
»In der Silvesternacht 2004.« Priola seufzte. »Er war ein einflussreicher Mann, der die Anliegen der Akademie stets gefördert hat.«
»Unterrichtet Linda Bohmanns Schwester auch an der Akademie?«, fragte Hogart.
»Nein.« Priola lächelte milde. Seine Stimme wurde leiser, sodass sie nicht länger durch den Gang hallte. »Madeleine ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie ist Malerin …« Er hob die Schultern. »… erfolglose
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