Die Engelsmuehle
Stock-im-Eisen-Platz. Bestimmt war er schon Dutzende Male an dieser Stelle vorbeigelaufen, hatte aber dem alten, von Nägeln durchbohrten Holzstamm keine Beachtung geschenkt. Seit dem Besuch in der Akademie musste er ständig an Madeleine Bohmanns Gemälde denken, dessen dicke Ölkruste sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt hatte.
Eigentlich stand er aber aus einem anderen Grund hier, in Wirklichkeit aus zweierlei Gründen. Zunächst einmal hatte er die Bedeutung der Zahlen 05 herausgefunden. Die Lösung war nicht schwer zu finden gewesen, wenn man ein bestimmtes Detail über Abel Ostrovsky wusste: Er war nicht irgendein Mitglied der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, wie Hogarts Bruder vermutet hatte, sondern ihr Schriftführer gewesen. Und damit hatte er die gleiche Funktion wie der Wiener Stadtrat Heinz Nittel in den Siebzigerjahren. Es gab eine weitere Gemeinsamkeit: Nittel war am 1. Mai 1981 von Terroristen der Abu-Nidal-Gruppe vor seinem Wohnhaus in Hietzing mit mehreren gezielten Schüssen auf offener Straße ermordet worden, als er in sein Auto steigen wollte. Neben Nittels Leiche hatten die Attentäter mit seinem Blut die Zahlen 05 auf die Pflastersteine des Bürgersteigs geschrieben.
Die Spur der Chiffre 05 reichte bis ins Jahr 1944 zurück. Damals hatten die österreichischen Katholiken, Sozialisten und Kommunisten beschlossen, dem Nationalsozialismus vereinten Widerstand zu leisten, und die Gruppe 05 gegründet. Allerdings war die Null als Buchstabe O zu lesen, und die 5 stand für den fünften Buchstaben des Alphabets, das E. 05 bedeutete nichts anderes als OE, was für Österreich stand. In den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs war dieses Symbol oft an die Fassade des Stephansdoms gepinselt und nach dem Krieg zum Gedenken ins Mauerwerk graviert worden, wo es auch heute noch sichtbar ist.
So viel zur Geschichte. Doch was hatte diese Chiffre mit den Morden an den beiden Schriftführern der jüdischen Kultusgemeinde zu tun? Hogart hatte keine Ahnung, ob es die Gruppe 05 noch gab. Falls ja - war es eine Warnung jener Gruppe oder eine Warnung an die Gruppe? Beim Nittelmord war es etwas anderes gewesen - dort lag die Verbindung zur Politik offen auf der Hand. Doch im Fall Ostrovsky glaubte Hogart an keinen politisch motivierten Mord. Dazu führten die Spuren zu sehr in die medizinische Richtung: Ostrovsky hatte das Video einer Patientin vor seinem Mörder versteckt, und im Krankenhaus waren Unterlagen aus dem Jahr 1988 gestohlen worden; offensichtlich jene Daten, für die sich Ostrovsky interessiert hatte.
Seit Stunden fragte sich Hogart, was 1988 passiert war. Es musste etwas mit Linda Bohmann zu tun haben. Allerdings machte ihn die Tatsache stutzig, dass die Videokassette nicht aus jener Zeit stammte. Sie war höchstens zehn Jahre alt.
Der Wind fegte durch die Gasse und rüttelte am Wagen. Kurz darauf fielen die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Hogarts Handy begann im Lautlos-Modus zu vibrieren. Er sah nur flüchtig auf das Display. Wieder die gleiche Nummer - und wieder verweigerte er das Gespräch. Hogart stieg aus dem Auto und ging zu Fuß zum Michaeierkeller, der nur fünf Gehminuten von seinem Parkplatz entfernt lag.
Passend zum tiefen Gewölbe der Gruft trug er feste Schuhe und einen Rollkragenpullover unter dem Sakko. Möglich, dass Tatjana sein Aussehen wieder als echt ätzend bezeichnet hätte, doch er wusste, wie kalt es in den Katakomben unter der Michaeierkirche war. Dieses Gebäude, dem Erzengel Michael geweiht, war eine der ältesten Kirchen Wiens und wurde seit den Zwanzigerjahren vom Orden der Salvatorianer betreut. Das Besondere an dieser Gruft waren die in ihr beherbergten Leichen, die wegen der klimatischen Eigenschaften nicht verwesten, sondern mittlerweile mumifiziert waren. Hin und wieder fanden Führungen durch die zahlreichen Katakomben statt und Hogart konnte sich noch lebhaft an seine Schulzeit erinnern, als er zum ersten Mal vor der Mumie eines Adeligen in einem ummauerten Sarg aus dem sechzehnten Jahrhundert gestanden hatte. Angeblich lagen in den Familiengräbern mehr als viertausend Menschen begraben, da sich die Katakomben nicht nur unmittelbar unter der Kirche ausbreiteten, sondern teilweise sogar darüber hinaus. Wie weit die Gewölbe unter die Stadt reichten, wusste wohl niemand so genau.
Der Haupteingang der Kirche befand sich auf dem Michaelerplatz, doch der Eingang zur Gruft lag an der Rückseite des Gebäudes, in der
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