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Die Engelsmuehle

Die Engelsmuehle

Titel: Die Engelsmuehle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Blick ihrer dunklen Pupillen noch eindringlicher war als der ihrer Schwester - beinahe beängstigend. Augenblicklich verstummten die Gespräche. Madeleine schritt in die Mitte des Raumes zu einem etwa eineinhalb Meter hohen, mit einem Tuch verhüllten Objekt.
    Deutlich hörte man in der Stille das Klappern ihrer Absätze und das Rascheln des Rockes. Sie trug eine schwarze Bluse mit einem weit ausgeschnittenen Dekollete, dazu eine Kette aus schweren Silberringen. Der Teint ihrer Haut war unnatürlich bleich, was möglicherweise an dem düsteren Licht der Gruft lag. Unumstritten war sie mit ihrem schwarzen, eng anliegenden Rock, der kurz über den Knien endete, der Höhepunkt des Abends. Durch die fahlen, aber kräftigen Beine kamen die bis zu den Waden reichenden Riemen ihrer Stöckelschuhe voll zur Geltung. Über den Schultern trug sie noch ein bodenlanges Tuch, das sie wie eine Tunika um die Arme geschlungen hielt. Mit all diesen Accessoires wirkte sie wie eine Mischung aus Vamp und griechischer Göttin.
    »Beeindruckt?«, flüsterte Tatjana.
    »Nicht im Geringsten«, log Hogart.
    »Das ist der Grund, warum du beim Pokern immer verlierst«, wisperte Tatjana. »Du kannst einfach nicht bluffen.«
    Madeleine legte eine Hand auf das verhüllte Objekt, wobei zahlreiche Silberringe an ihrem Handgelenk klapperten. »Einen schönen, guten Abend.«
    Ihre Stimme klang mystisch und dunkler als die ihrer Schwester. Auch sonst schien sie bis auf das Aussehen nichts mit Linda gemeinsam zu haben. So eloquent und damenhaft Linda war, so verrucht und gefährlich schien Madeleine.
    Sie zog das Tuch von dem Objekt, worauf ein etwa eineinhalb Meter hoher Stein mit eingelassenem Kupferstich zum Vorschein kam. Oben das ausdruckslose Gesicht eines Pesttoten, darunter einige Zeilen, die der Ausstellung wohl als Geleitwort dienten.
    Während das Publikum zuerst stutzte und dann zu applaudieren begann, las Hogart die Inschrift.
     
    In der Herrengasse herrschte der Tod, auf dem Graben grub er die Leute ein, in der Singergasse sang er ein Requiem, in der Naglergasse spitzte er seine Pfeile, in der Judengasse hielt er keinen Sabbat, in der Renngasse entliefen ihm nicht viele, in der Strohgasse erwürgte er manche im Heu, auf dem Stock-im-Eisen-Platz zeigte er seine Härte, in der Färberstraße bestrich er viele mit bleicher Farbe, in der Riemergasse schnitt er Riemen aus fremden Häuten, in der Himmelpfortgasse schickte er manche in den Himmel. Es gibt keine Gasse noch Straße, welche der rasende Tod nicht hätte durchschritten. Man sah den ganzen Monat um Wien und in Wien nichts als Tote tragen, Tote führen, Tote schleifen, Tote begraben.
     
    - Johann Ulrich Megerle, Wien 1679 -
     
    Während Hogart die Zeilen mehrmals las, ging Madeleine herum, um ihre Gäste willkommen zu heißen. Hogart wunderte sich, dass es bei der Begrüßung keine Umarmungen oder flüchtige Küsse auf die Wange gab. Völlig distanziert reichte Madeleine jedem Besucher die Hand und trotzdem hatte es den Anschein, als kannte sie die meisten der Anwesenden persönlich.
    »Die Frau hat Stil«, murmelte Tatjana.
    »Du willst sie mir doch nicht schmackhaft machen und mich mit ihr verkuppeln, oder?«
    »Du brauchst dich gar nicht erst zu bemühen. Bei ihr hättest du sowieso keine Chance. Aber sie schaut nicht schlecht aus, ist etwa in deinem Alter, so groß wie du …« Tatjana verstummte für einen Moment. »Hattest du eine Frau, seitdem Eva mit dir Schluss gemacht hat?«
    »Was geht dich das an?«
    »War etwas mit dieser Ivona Markovic?«
    »Nein, und jetzt sei still!«
    Madeleine Bohmann kam immer näher und Tatjana nutzte die Gelegenheit, um in die andere Richtung zu verschwinden. Hogart sah ihr nach, wie sie auf die Pestgruben außerhalb der Stadt zusteuerte. Als er sich wieder umdrehte, stand Madeleine vor ihm.
    »Sie sind an Malerei interessiert?«, fragte sie.
    »Ich, na ja …«
    Sie lächelte. »Geben Sie sich keine Mühe. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber das sieht man.«
    »Weil ich keinen Lidschatten trage?«
    »Es ist Ihr Blick, mit dem Sie die Leute mustern. Sie widmen den Menschen mehr Aufmerksamkeit als den Gemälden. Falls ich Sie fragte, was sich in diesem Raum befindet, könnten Sie mir wohl die exakte Zahl der Anwesenden, aber bestimmt nicht die Anzahl der Gemälde nennen.«
    »Siebzehn«, antwortete Hogart. »Den Kupferstich dazugerechnet.«
    Beeindruckt hob Madeleine eine Augenbraue. Am Glänzen ihrer Augen sah er deutlich, dass sie

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