Die Engelsmuehle
an den Gemälden der linken Gewölbeseite entlangschritt, mischte sich Hogart auf der anderen Seite unter die Besucher. Linda Bohmann hatte nicht übertrieben. Die Werke ihrer Schwester waren nicht nur enorm groß, sondern steckten noch dazu in wuchtigen Rahmen. Einige davon reichten von der Hüfthöhe bis zur Decke, womit sie etwas über zweieinhalb Meter hoch waren. Die dunklen Farben vermittelten einen ähnlich düsteren Eindruck wie das Gemälde vom Stock im Eisen aus Lindas Büro. Ebenso waren diese Motive hier auf das Wesentliche konzentriert und wirkten dadurch noch eine Spur morbider. Die dick auf die Leinwand gespachtelte Olschicht glänzte im Licht und warf mitunter kleine spitze Schatten, sodass Hogart den Eindruck gewann, dass sich das Motiv in den Gemälden bewegte, sobald er daran vorbeiging.
Nach dem elften Bild hatte Hogart genug gesehen. Der Streifzug durch einen der abscheulichsten Abschnitte der Wiener Historie war wirklich gelungen, sofern es Madeleines Ziel war, ihre Besucher zu schockieren und ihnen den Appetit zu verderben. Interessanterweise war an keinem der Werke ein Kaufpreis ausgeschildert. Entweder war es in dieser Szene nicht üblich, Gemälde auszupreisen, oder Madeleine lag nichts daran, sie zu verkaufen. Er wusste auch nicht, wer eine solch lieblose Darstellung ohne viel Schnörkel, Details und Beiwerk kaufen sollte. In einem Schlafoder Wohnzimmer machten sich diese Gemälde jedenfalls nicht besonders gut.
Die Bilder auf der gegenüberliegenden Seite des Gewölbes überblickte er nur von der Distanz aus. Erst jetzt bemerkte er, dass die Titel der Exponate in Tafeln über den Rahmen hingen. Im Hintergrund des Gemäldes Die Infizierten erschien Wien als ein einziges großes Lazarett, wobei sämtliche Häuser als Zeichen der Erkrankung mit weißen Kreuzen gekennzeichnet waren. Im Bild daneben stand Der Totengräber als hagere, bleiche Figur mit schwarzem Zylinder neben seinem Fuhrwerk. Die verkrümmte Gestalt erinnerte an den Gevatter Tod, bloß dass er statt einer Sense eine Schaufel in der Hand hielt. Im nächsten Gemälde wurde ein Junge mit Kappe, schmutzigem Gesicht und einer Laterne in der Hand an einem Seil in Das Massengrab hinuntergelassen, um in der Choleragrube nach Lebenden Ausschau zu halten. In Die Pestsäule sah man den mächtigen Kaiser in kniender Haltung demütig zum Gebet gebeugt, um das Ende der Seuche für sein Reich zu erflehen.
Zu guter Letzt fuhren die Siechknechte in den Pestgruben außerhalb der Stadt mit ihren Karren vor die Stadttore, um die schrecklich entstellten Toten abzuladen. Dort wurden die aufgequollenen Leiber regelrecht mit Kalk zugeschüttet. Es sah aus, als trieben die Leichen in einem weißen Meer. Ohne es zu wollen, starrte Hogart länger als nötig auf das Bild. Obwohl die Darstellung auf jegliches Detail verzichtete, bildete er sich ein, das furchtbare Wagengerassel und Peitschenknallen des Kutschers zu hören. Das Surren seines Handys riss ihn aus der Erstarrung.
Mittlerweile war es der fünfte oder sechste Versuch, ihn zu erreichen. Immer wieder eine ähnliche Nummer: einmal Garek, dann Eichinger und jetzt das Büro des Morddezernats. Eddie Seidl hatte der Kripo sicherlich den Mann beschrieben, der sich im Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals als Ermittler ausgegeben hatte, und nun versuchte man, ihn zu erreichen. Auf dieses Gespräch konnte er gern verzichten. Solange er keine plausible Erklärung für sein Verhalten hatte und nicht wusste, was es mit der Kassette auf sich hatte, die Ostrovsky ausgerechnet seinem Bruder zukommen lassen wollte, blieb er besser unsichtbar. Er schaltete das Handy endgültig ab.
Irgendwie musste er an diesem Abend mehr über Linda Bohmann herausfinden und vor allem ihre Beziehung zu Ostrovsky klären. Doch Madeleine Bohmann war noch nicht aufgetaucht, und das, obwohl das Gewölbe sich von Minute zu Minute mehr mit Menschen füllte. Als wäre die Ausstellung ein geheimer Treffpunkt, strömten ständig neue Gäste die Treppe herunter. Viele schienen sich zu kennen, da um Hogart herum zahlreiche verhaltene Gespräche geführt wurden.
Plötzlich tauchte Tatjana an seiner Seite auf. Hastig zupfte sie an seinem Sakko. »Dort!«, wisperte sie.
Aus einem Torbogen, hinter dem eine Treppe in ein tiefes Kellergeschoss führte, trat eine hochgewachsene Frau mit breiten Schultern und verdammt langen Beinen.
8
Die Ähnlichkeit zu Linda Bohmann war verblüffend, nur dass diese Frau die Haare offen trug und der
Weitere Kostenlose Bücher