Die Engelsmuehle
hineingebaut worden war. Der Weg endete auf der Bergkuppe, wo im Schatten der Bäume tatsächlich eine Windmühle thronte. Hogart sah nur die Umrisse. Auf einem massiven Steinsockel, der wohl den Keller darstellen sollte, folgte ein Stockwerk aus Holz mit einigen Fenstern, aber verschlossenen Läden. Darüber saß die Kuppel mit dem Windrad. Ohne Bespannung wirkte die Holzkonstruktion aus den fünf Flügeln wie ein Gerippe, das monströs in den Nachthimmel ragte.
Wer so verrückt genug gewesen war, auf dem Plateau mitten im Wald eine Windmühle zu errichten, war zweifelsohne auch so verrückt gewesen, den Brunnen zu graben. Womöglich hatte dieser jemand sogar mit der Wünschelrute eine Quelle entdeckt. Hogart schätzte das Bauwerk auf mindestens zweihundertfünfzig, wenn nicht sogar dreihundert Jahre.
Als Hogart um den Wagen herumging, zerplatzten die ersten Regentropfen auf der Autoscheibe.
»Beeilen wir uns!« Madeleine lief voraus.
Hogart folgte ihr über den mit Natursteinen gelegten Fußweg, am Brunnen und dem Vorratskeller vorbei. Als sie die Holzhütte erreichten, tauchte ein Blitz die Umgebung für Sekunden in gleißendes Licht. Unmittelbar darauf grollte der Donner jenseits der Wipfel. Im gleichen Moment setzte der Regenguss ein. Augenblicklich verwandelte sich der Boden links und rechts des Weges in schlammige Pfützen, aus denen der Matsch bis zu Hogarts Hosensaum hochspritzte.
Madeleine öffnete den Schuppen und zog Hogart zu sich ins Dunkel. Unter dem Vordach blieben sie halbwegs trocken. Blitz und Donner tauchten die Umgebung in eine Weltuntergangsstimmung. Von der Mühle floss ein Sturzbach den Hang hinunter, um im Wald zu verschwinden. Der Weg von dem schmiedeeisernen Tor zur Höhenstraße wurde binnen Sekunden so ausgespült, dass die Heimfahrt durch den Wald nicht ungefährlich werden würde.
Offensichtlich bemerkte Madeleine, wie er zu den Autos blickte, da sie sich plötzlich an ihn schmiegte.
»Wahrscheinlich ist es noch zu früh, so etwas zu sagen, aber wenn Sie möchten, können Sie im Gästezimmer der Mühle übernachten.« Sie griff über seinen Kopf zu einem Holzbrett, von wo sie einen Schlüsselbund herunternahm.
Er spürte ihren Atem und roch ihr Parfüm, gepaart mit dem Geruch des Regens und der feuchten Erde.
»Allerdings bin ich eine Frühaufsteherin. Speck und Eier gibt es um halb sechs.«
»Klingt verlockend.«
Im Dunkeln sah er nur die Silhouette ihres Gesichts. Der matte Mondschein zeichnete einen silbernen Schimmer auf ihre Stirn und die Wange. Für einen Moment glaubte er, sie lächeln zu sehen.
»Kann ich das als ein Ja deuten?«
Ihre Stimme erinnerte ihn an Linda. Die Nähe der Frau erregte ihn, obwohl die Situation alles andere als erotisch war. Sie standen im Türrahmen der Holzhütte und starrten in die Auswüchse des Sommergewitters.
»Warten wir ab, wie sich das Wetter entwickelt«, antwortete er. »Es ist ziemlich einsam, so weit weg von der Stadt.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
»Ist einsam gleichbedeutend mit schlecht?«, fragte sie. »Noch vor einem guten Jahrhundert florierte diese Gegend. Pferdekarren fuhren die Straße rauf und runter. Die Mühlräder liefen auf Hochtouren. Jede Nacht mussten die Knechte in der Mühle arbeiten, schwere Säcke schleppen, Getreide in den Mahlkasten schütten, das Mehl herausnehmen und forttragen.«
»Hatte der Brunnen Wasser?«
»Früher schon, der Mühlbrunnen reicht auch elendstief hinunter. Einer Sage zufolge warf der alte Müller seine Frau in den Brunnen, wo sie angeblich noch heute liegt. Weil sie nie richtig begraben wurde, versiegten sowohl die Quelle als auch der Bach hinter dem Haus.«
»Eine nette Geschichte.«
»Wenn sich hier oben etwas hält, dann ist es der Aberglaube. Seitdem ist die Mühle nicht mehr in Betrieb; die Mühlräder stehen still. Nie wieder hat jemand Wasser aus dem Brunnen geschöpft. Doch jede Vollmondnacht füllt sich der Brunnen randvoll mit Wasser. Wer davon trinkt, wird krank und stirbt.«
»Und dieses Märchen glauben Sie?«
Madeleine schmunzelte. »Natürlich nicht. Würde ich sonst hier wohnen?«
Hogart blickte zum Himmel. In drei Nächten würde der nächste Vollmond sein. Im Moment war er allerdings zwischen den Wolken verschwunden.
»Wie sind Sie zu der Mühle gekommen?«
»Nachdem der Betrieb eingestellt wurde, stand die Mühle jahrelang leer.« Sie ließ den Schlüsselbund um ihren Finger kreisen. »Mit der Zeit stürzte das Dach ein, es regnete in die Zimmer,
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