Die Engelsmuehle
gesprochen, aber vielleicht musste sie sich ihren Frust von der Seele reden. Hogart betrachtete die Staffeleien. Ein Motiv mit verkrüppelten Kindern reihte sich an das nächste - teilweise Föten, teilweise Neugeborene, mit Nähten im Gesicht und Klammern an Kopf, Schultern und Gelenken. Hogart wurde nicht schlau aus dieser Frau. In einem Moment wirkte sie natürlich und sympathisch, im anderen wiederum abgrundtief krank.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte sie.
»Dass die Bilder der Spiegel der Seele sind.«
Sie schmunzelte. »Ich mag es, wenn man mich richtig zitiert.« Neben ihr stand ein verdecktes Gemälde auf einer Staffelei. Sie zog das Leintuch vom Rahmen. »Hier ist das erste Gemälde, zugleich ist es als Einziges fertig.«
Das Bild zeigte den Kopf eines Mädchens, das Gesicht schrecklich verstümmelt, mit entsetzlich roten Farben auf die Leinwand gespachtelt, sodass man die offenen Wunden förmlich spüren konnte. Unwillkürlich kniff Hogart die Augen zusammen.
»Ich habe diese Dinge nicht erfunden. Sie existieren tatsächlich. Und wenn man sie einmal gesehen hat, gehen sie einem nicht mehr aus dem Kopf.«
»Muss man sie sehen?«, fragte er.
»Soll man sie verheimlichen, unter den Teppich kehren?«, erwiderte sie. »Diese Motive stammen aus einer dunklen Vergangenheit. Missgestaltete Kinder, Föten, Freaks, Krüppel. Im Wiener Narrenturm in der Spitalgasse siehst du noch viel schrecklichere Dinge als diese hier.«
Hogart wusste nicht viel über den Narrenturm, bloß dass das Gebäude in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts das erste Krankenhaus zur Unterbringung von Geisteskranken gewesen war. In jener psychiatrischen Klinik, einem festungsähnlichen Rundbau mit schlitzartigen Fenstern, war Platz für etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Geisteskranke gewesen.
»Du kennst den Narrenturm?«, stellte sie fest, als sie seinen Blick bemerkte.
»Ich war nie drinnen.«
»Ich bin öfters dort - vor allem, wenn ich auf der Stelle trete. Heute ist es ein pathologisch-anatomisches Museum. Durch die langen Korridore zu gehen, die Skizzen und Fotografien von damals zu betrachten, die Inhalte der Schaukästen und Vitrinen zu studieren ist zwar erschreckend, aber ebenso inspirierend.«
Sie warf das Leintuch über das Gemälde. »Am schlimmsten sind die Ausstellungsstücke im fünften Stockwerk. Von Albert Gaugin hatte ich dir bereits erzählt. Er war ein äußerst zweifelhafter Arzt, unbestreitbar selbst ein Geisteskranker. Aber wer konnte das damals schon so genau sagen? Immerhin hatte er Medizin studiert und genoss den Ruf eines Vordenkers.« Sie breitete die Arme aus. »Das sind seine Kinder. Als Arzt entwickelte er die moderne Säftelehre, vertrat die mittelalterliche Euthanasie und führte Operationen am Unterleib schwangerer Frauen durch. Allerdings habe ich auf eine Nachbildung seiner in Spiritus eingelegten Frauenorgane verzichtet.«
Hogart hatte sich soeben entschieden, nicht hier zu übernachten. »Du wolltest mir etwas zeigen«, erinnerte er sie. »War es das?«
Sie schmunzelte. »Wusstest du, dass Albert Gaugin mit Tod Browning in Briefkontakt stand?«
Hogart horchte auf.
Sie schmunzelte. »Ich dachte mir, dass dich das interessieren würde.«
Der amerikanische Underground-Regisseur hatte in den Dreißigerjahren einen Filmklassiker geschaffen, den Hogart zwar auf Videokassette besaß, doch wegen der schockierenden Aufnahmen nie zu Ende gesehen hatte. In Hogarts Sammlung befanden sich unter anderem die Autogramme zweier Schauspieler, die an diesem Film mitgewirkt hatten - wobei die Bezeichnung Schauspieler übertrieben war, da sie nachher nie wieder an einem anderen Film mitgewirkt hatten.
»Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass keine einzige Aufnahme in Freaks gestellt ist«, sagte Madeleine. »Als sich damals herumsprach, dass die darin gezeigten monströsen Jahrmarktsgestalten echt waren, lösten die Kritiker einen Skandal aus, worauf der Film zensiert und in manchen Ländern sogar verboten wurde.«
In Hogart kamen Erinnerungen hoch. Echt oder unecht - die Aufnahmen waren schockierend. Er sah den Schlangenmenschen förmlich vor sich, die kleinköpfige Frau und den lebenden Torso, der ohne Arme und Beine versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Tod Browning starb als einsamer Alkoholiker an Krebs. Er bekam nicht mehr mit, dass sein Film sechzig Jahre nach der Veröffentlichung als Meisterwerk gefeiert wurde. Er war seiner Zeit weit voraus, ebenso wie Albert
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