Die Engelsmuehle
er in einer Terrassenwohnung in der Tivoligasse wohnte, Muscheln, Shrimps und Fisch nicht ausstehen konnte und wegen der Schmerzen in seiner Hüfte regelmäßig Joggen ging. Bereits nach wenigen Minuten kamen sie dahinter, dass sie beide Talkshows verachteten, gezwungenen Small Talk verabscheuten und lieber einen langweiligen Klassiker in einem Programmkino sahen, bevor sie eine Karte für einen Blockbuster in einem klimatisierten Multiplex-Kinosaal lösten. Hogart langweilte sich bei derartigen Filmen und Madeleine bekam Kopfschmerzen von den grellen Bildern. Sogar ihre Lebensphilosophien ähnelten sich: Das Leben war viel zu kurz, als dass man es mit falschen Verpflichtungen vergeudete. Man sollte versuchen, nur das zu machen, wovon man überzeugt war, und sich nur mit den Leuten zu treffen, die man wirklich sehen wollte. Alles andere kostete nur unnötige Energie.
Hin und wieder blickte er zu Tatjana, die sich die Gemälde auf der anderen Seite des Raumes ansah und nicht den Eindruck machte, als langweile sie sich.
»Haben Sie Hunger?«, fragte er plötzlich.
Madeleine sah ihn traurig an. »Hier gibt es nichts, nicht einmal ein Glas Wasser.«
»Wir könnten essen gehen«, schlug er vor. »Ich kann leider nicht weg.«
»Anschließend?«
Sie dachte nach. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. In spätestens drei Stunden ist der ganze Trubel hier sowieso vorüber, dann lade ich Sie zu mir nach Hause auf ein Käsesandwich und ein Glas Sekt ein. Sind Sie dabei oder nicht?«
Hogart zögerte.
»Außerdem habe ich etwas in meinem Atelier, das Ihnen gefallen könnte.«
»Doch nicht etwa ein weiteres dieser schrecklichen Gemälde?« Sie zwinkerte ihm zu. »Viel besser!«
»Ich lasse mich überraschen.«
»Einverstanden - in drei Stunden brechen wir auf. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um die anderen Gäste.«
Während Hogart eine weitere Runde durch das Gewölbe drehte und diesmal die Gemälde mit anderen Augen betrachtete, überlegte er ernsthaft, ob die Motive durch ihre Schlichtheit an Ausdruckskraft verloren oder tatsächlich gewannen.
Vor dem Bildnis des Totengräbers trat Tatjana an seine Seite. »Huhuuu.« Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, als wolle sie sich frische Luft zufächern. »Ganz schön langes Gespräch.«
»Und gar nicht einmal so uninteressant.«
»Das ist mir nicht entgangen.« Sie rollte mit den Augen. »Du scheinst sie ja prächtig unterhalten zu haben. Wir konnten ihr Lachen bis ans andere Ende des Raums hören.« Dann wurde sie leiser. »Was hast du rausgefunden?«
»Noch nichts. Aber sie hat mich zu sich eingeladen. Möglicherweise erfahre ich mehr über ihre Schwester und Ostrovsky.«
»Verplappere dich nicht.«
Hogart sah sie fragend an.
»Du bist geschieden und alleinerziehender Vater - alles klar?«
»Klar.«
»Bleib anständig, Papa.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. Anschließend spreizte sie die Finger zu einem Victory-Zeichen.
Hogart sah ihr nach, wie sie sich zwischen die Besucher drängte und über die Treppe nach oben verschwand. Dann schielte er zu Madeleine. Wer würde bei dieser Frau schon anständig bleiben wollen?
9
Am nördlichen Stadtrand, wo der Wienerwald begann, schlängelte sich die Donau zwischen dem Kahlenberg, dem Leopoldsberg und dem Bisamberg hindurch. Diese sogenannte Wiener Pforte stellte die erste Erhebung der Alpen dar. In jener ländlichen Gegend aus Äckern, Weingärten und immer dichter werdenden Föhren- und Schwarzkieferwäldern, die immer noch zur Stadt gehörten, erinnerten zahlreiche Gedenktafeln an die Türkenbelagerung vor über dreihundert Jahren. Mittlerweile kam Hogart diese Anhöhe ziemlich vertraut vor. Heute Morgen war er bereits am Ende der Waldorfgasse gewesen, wo Primär Ostrovskys Villa lag. Doch jetzt fuhr er daran vorbei.
Über holperiges Kopfsteinpflaster lenkte er den Wagen die zahlreichen Serpentinen zum Kahlenberg hinauf. In den engen Kurven sah er über die Leitplanken zur Donau hinunter, die an jener Stelle noch ungebändigt dahinfloss und sich erst weiter unten zähmen ließ, um als ruhiger Strom die Stadt zu durchqueren. Die Höhenstraße verband den Kahlenberg mit dem Leopoldsberg. Als Kind hatte Hogart mit seinen Eltern öfter Ausflüge in den Wienerwald unternommen, richtiggehende Wanderungen zu den Berghütten oder Heurigen an der Donau gemacht. Aus dieser Zeit war ihm die Höhenstraße noch ein Begriff, als Weg mit engen Kurven und
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