Die Engelsmuehle
seinem Blick stand.
»Im Lauf der Jahrhunderte wurde Wien immer wieder von Seuchen heimgesucht, von Pest, Cholera oder den Pocken«, antwortete sie langsam. »Im schlimmsten aller Pestjahre forderte der Tod mehr als zwölftausend Opfer. Es war immer das Gleiche: Zuerst wurden die Leute in den Vorstädten dahingerafft, kurz darauf in der Innenstadt. Wer einen Pferdewagen besaß, floh aus Wien. Der Rest blieb. Zwischen den Leuten war die Angst vor der Ansteckung so groß, dass sie sich mieden und viele von ihnen einsam und allein starben. Damals glaubten die Menschen, die Pest mit ihrem Massensterben sei als Strafe Gottes über die sündige Menschheit gekommen. Sie dachten damals tatsächlich, das Ende der Welt sei da.« Erst jetzt blickte Madeleine zur Seite.
»Das beantwortet nicht die Frage, warum Sie so etwas malen«, hakte Hogart nach.
»Es ist schwer, das jemandem zu erklären, der sich nicht für Kunst interessiert. Dazu müsste man die Malerin besser kennen, in ihr Inneres blicken, ihre Erlebnisse teilen, ihre gesamte Umwelt erfahren.«
Und wieder war sie seiner Frage ausgewichen.
»Die Bilder sind der Spiegel der Seele«, fügte sie abschließend hinzu. »Klingt das besser?«
Hogart sah sich demonstrativ um. »Ihre Gemälde sind düster, die Motive schlicht, die Ausführung grob, ohne Freude am Detail. Sieht so etwa Ihre Seele aus?«
Sie antwortete mit einem dezenten Lächeln, als höre sie diese Kritik nicht zum ersten Mal. »Vollkommenheit entsteht nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.«
Hogart ahnte, dass er sich auf verdammt dünnes Eis begab, falls er mit dieser Frau über Kunst zu diskutieren beginnen wollte, aber da er sich ihr ohnehin als Automechaniker vorgestellt hatte, gab es nichts zu verlieren. »Wird es nicht unkünstlerisch, wenn es zu einfach wird?«, fragte er.
»Eine perfekte Malerin besitzt die Fähigkeit, komplizierte Dinge einfach auszudrücken - nicht umgekehrt, mein Lieber.«
»Und woran erkennt man den Unterschied zwischen einfach gut und einfach schlecht?«
»Durch tägliche Übung.« Sie griff nach seiner Hand und legte ihre Hand in seine. Hogart spürte die harte aufgeraute Haut ihrer Finger.
»Für das Zustandekommen eines gelungenen Gemäldes sind die Spachtel und das Wischtuch oft wichtiger als der Pinsel«, erklärte sie.
»Demnach sind Ihre Gemälde vollkommen?«
»Es gibt drei Grundregeln, wie man das perfekte Bild malt.« Sie löste ihre Hand aus seinem Griff. »Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten.« Plötzlich lachte sie laut auf und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Eine Geste, die nicht zu ihrer arroganten Art passte.
»Scheiß drauf!«, sagte sie plötzlich und hielt sich wieder den Mund vor Lachen. Mit einem Mal kam sie näher an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Ich sage Ihnen was … mir geht das ganze Getue am Arsch vorbei. Ich bin froh, endlich jemanden gefunden zu haben, der nicht aus der Kunstbranche ist.«
Sie umfasste zärtlich seinen Arm. »Es ist erfrischend, mit jemandem zu reden, der sagt, was er denkt, und nicht jeden Pinselstrich analysiert.«
Hogart fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. »Ich dachte, Sie fühlen sich hier wohl. Schließlich ist es Ihre Ausstellung.«
»Am liebsten würde ich nur die Bilder ausstellen und mich selbst verdrücken. Aber das geht leider nicht. Die Besucher erwarten, mich hier zu sehen, um mich mit ihren Interpretationen der Bilder zu langweilen. Als ob mich das interessieren würde. Kaum jemand erkundigt sich danach, was ich mir dabei gedacht habe … kaum jemand, bis auf Sie.«
»Aber ganz habe ich es immer noch nicht begriffen«, gab Hogart zu.
»Das macht nichts.« Sie sah ihn verschwörerisch an. »Darf ich für den Rest des Abends an Ihrer Seite bleiben?«
»Klar. Wir könnten so tun, als unterhielten wir uns über Ihre Gemälde.«
Sie schmunzelte, und diesmal sah es völlig ungezwungen aus. »Ausgezeichnete Idee.«
Sie plauderte ein wenig über sich und mit der Zeit hatte Hogart das Gefühl, als müsse er mehr über sich erzählen. Zwar blieb er bei der Lüge, er sei Automechaniker, doch erwähnte er seine Vorliebe für Blues und Jazz, Schwarz-Weiß-Filme und Nostalgiefestivals. Er schilderte ihr, dass er in seiner Feizeit auf Flohmärkten und Tauschbörsen mit Schellacks und Kinoplakaten handelte und Autogramme sammelte, worunter sich sogar welche von Fritz Lang und Billy Wilder befanden.
Er erzählte ihr, dass
Weitere Kostenlose Bücher