Die Engelsmuehle
Alkohol. Lange nach Mitternacht kam es zum Streit zwischen Madeleine und ihrem Vater. Wie üblich ging es um die Ungerechtigkeit, mit der Ernest Bohmann seine Töchter behandelte. Obwohl Linda versuchte, den Streit zu schlichten, verließen Ernest Bohmann und seine Frau das Haus. Sie gingen durch den Waldweg zur asphaltierten Höhenstraße, wo ihr Wagen parkte. Von dort wollten sie zu ihrem Zweitwohnsitz fahren, einem Bungalow in der Nähe des Donauturms. Doch auf der Höhenstraße geriet ihr Wagen auf einer Eisplatte ins Schleudern und kam in einer Kurve von der Straße ab. Das Auto durchschlug die Leitplanke und segelte an der Ostseite des Kahlenbergs über die Baumwipfel in die Schlucht, bis es schließlich an den Felsen zerschmetterte. Sie waren beide sofort tot.
Hogart erinnerte sich dunkel daran, dass die Meldung vom Tod des Verlegers seinerzeit durch die Presse gegeistert war. »Wurde der Unfall damals untersucht?«
Priola sah ihn an, als wisse er, worauf Hogart hinauswollte. »Es war dubios. Offiziell waren Lindas Eltern nicht betrunken, was ich aber bezweifle. Ich vermute, die beiden waren bis oben hin mit Alkohol abgefüllt. Eine peinlichere Schlagzeile als diese war kaum möglich, wenn man bedenkt, welches Programm der Verlag Bohmann herausbrachte: juristische Fachzeitschriften, Lose-Blatt-Sammlungen, Magazine für Notare und Rechtsanwälte und dergleichen … da die Familie Bohmann, auch wegen der Verlagstätigkeit des Vaters, gute Kontakte zum Ministerium und vor allem zu Staatsanwalt Hauser hatte, wurde die Untersuchung rasch abgeschlossen. Die Medien schlachteten den Fall nicht wie üblich aus. Beide Leichen wurden zwar geborgen, aber da der Wagen an einer exponierten Stelle hing, konnte er nicht heraufgeholt werden.«
»Das ist unüblich.«
»Die Schlucht liegt nicht auf öffentlichem Gut, sondern gehört zum Grundstück der Bohmanns. Die Haftpflichtversicherung deckte keine Bergekosten. Madeleine und Linda hätten die Sicherstellung des Wracks aus ihrer eigenen Tasche bezahlen müssen.«
»Wo liegt das Problem?« Hogart konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die beiden Erbinnen des Bohmann-Verlags unter Geldmangel leiden mussten. »Die Druckerei, das Verlagshaus, eine eventuelle Lebensversicherung?«
Priola winkte ab. »Der Verlag war verschuldet und wurde für einen Pappenstiel verkauft. Zudem weigerte sich Shonebakers, die gesamte Versicherungssumme auszubezahlen. Wegen Bohmanns Schulden waren die letzten beiden Prämien nicht überwiesen worden, außerdem wurde nie restlos geklärt, ob die Bohmanns in ihrem alkoholisierten Zustand nicht Selbstmord begangen hatten.
Was vom Erbe übrig blieb, sollten die Töchter jeweils zur Hälfte erhalten. Doch sie zerstritten sich, da Linda ihrer Schwester die Schuld am Tod der Eltern gab. Aus welchen Gründen auch immer besuchte Linda einige Tage vor der Testamentseröffnung den Notar. Sie wollte von dem Geld nichts haben, das übrig bleiben würde. Bis auf den Bungalow beim Donauturm verzichtete sie auf alle Erbansprüche. Madeleine behielt die Engelsmühle und Linda übersiedelte in die Stadt. Nachdem Linda ihren Teil des bürokratischen Papierkrams geklärt hatte, machte sie mit ihrem Lebensgefährten Schluss.«
»Linda hatte einen Freund?«, platzte es aus Hogart hervor. Für einen Augenblick war er sprachlos. »Wen?«
Priola blickte auf die Armbanduhr, dann schaute er zum Fenster raus. »Darüber möchte ich nicht reden.«
»Sie sagten, Linda habe sich nach dem Tod der Eltern verändert.«
Priola nickte. »Sie war psychisch am Ende. Ich übernahm die Hälfte ihrer Kurse, sonst hätte sie das Wintersemester zu keinem Abschluss bringen können.« Er sah wieder durchs Fenster zum Parkplatz. Mittlerweile war die Zigarre im Aschenbecher erkaltet. »Seitdem malt sie nicht mehr. Sie führte nur die notwendigsten Vorträge an der Kunstakademie weiter. Sogar der Stil, in dem sie unterrichtet, hat sich geändert. Er ist, wie ihr gesamtes Leben, düsterer geworden.«
Bei seinem Besuch in ihrem Büro hatte Hogart nichts von alledem mitbekommen. Wie positiv und fröhlich gelaunt musste Linda noch vor ein paar Jahren gewesen sein?
»Woher wissen Sie das alles?« Diese Frage brannte Hogart schon seit geraumer Zeit auf der Zunge.
Der Rektor blickte ihn an, als wolle er abwägen, wie viel er ihm anvertrauen könne. Er strich sich mit den Fingern durch den Kinnbart. »Sie fragten mich zuvor nach Lindas Lebensgefährten. Bis vor zweieinhalb
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