Die Engelsmuehle
Jahren waren wir ein Paar.«
»Sie beide?« Unwillkürlich dachte Hogart an Madeleines abfällige Bemerkung über ihre Schwester, die sie nachts in der Engelsmühle ausgespien hatte.
»Nicht in sexueller Hinsicht.« Priola starrte zu Boden. »Sie wissen ja, eine Frau, die ab der Hüfte gelähmt ist… aber platonisch, und ein wenig mehr. Ich brauchte nicht viel. Linda gab mir alles, um mich glücklich zu machen - und ich gab ihr nie einen Grund, sich unwohl zu fühlen. Trotzdem beendete sie die Beziehung. Den wahren Grund kenne ich bis heute nicht.«
Hogart fixierte das irritierend rot blinkende Licht des Anrufbeantworters. Schließlich rutschte er an die Kante des Sofas. »Wenn Sie ein Paar waren, müssten Sie doch wissen, ob Linda Primär Ostrovsky oder Doktor Dornauer kannte.«
Priola sah ihn mit traurigen Augen an. »Natürlich kannte sie die beiden. Die Rollstuhlfahrer- und Physiotherapeuten-Szene ist nicht besonders groß, da kennt jeder jeden. Ostrovsky behandelte ihre Wirbelsäulenverletzung nach dem Sturz und Doktor Dornauer machte mit ihr die Physiotherapie.«
Ein dumpfes Gefühl breitete sich in Hogarts Magen aus. »Das hat sie der Polizei verheimlicht.«
»Möglicherweise ist das der Grund, weshalb die Beamten sie noch einmal sprechen wollen …« Priolas Augen klebten förmlich an der Fensterscheibe. »… Wenn man vom Teufel spricht.«
Soeben fuhr ein Wagen über den Kiesweg und hielt auf dem Besucherparkplatz. Allerdings war es weder Gareks noch Eichingers Auto. Als sich die Tür des blauen Vans öffnete, sah Hogart Lindas brünetten Haarschopf. Sie hob den Rollstuhl vom Beifahrersitz über sich hinweg und klappte ihn neben sich auf dem Kiesweg auseinander. Anschließend hob sie die einzelnen Räder aus dem Wagen und steckte sie an die Naben des Rollstuhls.
Wortlos beobachteten Hogart und Priola die Prozedur. Linda hob ein Bein aus dem Fahrersitz, stützte sich auf dem Lenkrad ab und hievte ihren Körper in den Rollstuhl. Anschließend hob sie das zweite Bein herüber. Danach klappte sie die Seitenlehnen und Fußstützen des Rollstuhls aus.
»Es muss die Hölle sein, nicht gehen zu können«, murmelte Hogart.
»Reden Sie mit einem Menschen, der seit Kurzem querschnittgelähmt ist«, antwortete Priola. »Er wünscht sich nichts sehnlicher, als wieder laufen, springen oder tanzen zu können. Aber daran gewöhnt er sich im Lauf der Jahre. Die Automatik des Wagens wird für Rollstuhlfahrer umgebaut, Gas- und Bremshebel befinden sich auf dem Lenkrad. Nicht gehen zu können, wird zum geringsten Problem.« Er sah Hogart von der Seite an. »Und nun fragen Sie denselben Menschen, nachdem er zehn Jahre lang im Rollstuhl gesessen hat, nach seinem sehnlichsten Wunsch. Er möchte seinen Körper spüren! Aufgrund der Lähmung haben die meisten Blasen- und Nierenbeschwerden oder Probleme mit dem Wundliegen. Manche verstümmeln ihre Oberschenkel oder legen aus Verzweiflung den Fuß auf die brennende Herdplatte oder in einen Topf mit kochendem Wasser, um endlich wieder einmal die Zehen zu spüren. Vergeblich. In einem leblosen Körper zu stecken - das ist die Hölle!«
Als sich Linda mit dem Rollstuhl über den Kiesweg mühte, um den Asphaltweg zu erreichen, der zum Haupteingang der Akademie führte, wandte sich Priola vom Fenster ab. »Bevor die Beamten kommen, werde ich sie fragen, weshalb sie die Polizei anlügt. Wollen Sie mich begleiten?«
»Ich …« Hogarts Blick fiel wieder auf das Blinken des Anrufbeantworters, das ihn schon die ganze Zeit irritierte. Dieses rote Leuchten! Plötzlich fuhr ihm die Idee wie ein Blitz durch den Kopf. Er war so ein Idiot gewesen. Weshalb hatte er nicht früher daran gedacht? Er konnte den Mordermittlungen eine entscheidende Wendung geben. »Ich muss weg.«
Priola sah ihn überrascht an.
Hogart reichte dem Rektor die Hand. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.«
Priola sah kurz zum Fenster raus. Linda Bohmann war nicht mehr zu sehen. »Nehmen Sie den Seitenausgang - den Korridor runter und dann rechts.«
»Danke.« Hogart verschwand durch die Tür.
Nachdem er den Gang entlanggelaufen war, bog er nicht zur Aula ab, sondern lief rechts zum Nebentrakt der Akademie. Ein Hinweisschild markierte den Seitenausgang. Als er die Tür öffnete und ins Freie treten wollte, versperrte ihm Linda Bohmann den Weg. Beinahe wäre er über sie gestolpert.
Sie saß im Rollstuhl, die Beine in eine Decke geschlungen, einige Mappen im Schoß, und hatte die
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