Die Engelsmuehle
Büromaterialien und Bänder mit Entspannungsmusik. Nach längerem Suchen fand er zwei längliche schwarze Kassetten, in denen sich die handschriftlichen Karteikarten der Patienten befanden.
Hogart erinnerte sich daran, was sein Bruder gesagt hatte. Er würde sich mit der Frau nicht in seiner Praxis treffen. Sie wohnte in Alt-Erlaa. Neben dem modernen Wohnpark stand ein Motel. Die große Wohnsiedlung! Hogart blätterte etwa fünfhundert Karten durch, widmete jedoch nur den weiblichen Patientennamen seine Aufmerksamkeit. Schließlich hatte er die Karten von fünf Frauen herausgezogen, die im Wohnpark Alt-Erlaa und den angrenzenden Straßen wohnten. Drei davon schieden aus, da sie über sechzig Jahre alt waren, ebenso ein Mädchen in Tatjanas Alter mit einer Gelenkskrankheit. Übrig blieb eine gewisse Victoria Berger, geboren 1969 und somit ein Jahr jünger als Kurt. Die Festnetznummer auf der Karteikarte war bis zur Unkenntlichkeit durchgestrichen. Darunter befand sich eine Handynummer. Ohne lange zu überlegen, wählte Hogart direkt von Kurts Apparat aus die Nummer.
Eine interessant klingende Frauenstimme meldete sich mit Hallo.
»Guten Morgen«, sagte Hogart. Im Hintergrund hörte er ein Radio und Autogeräusche. Vermutlich war sie gerade mit dem Wagen unterwegs.
»Hallo? Wer spricht bitte? Ist das ein Scherz?«
Sie klang verwirrt. Vermutlich hatte sie Kurts Nummer auf ihrem Display gesehen und war nun überrascht, dass sich ein Mann mit einer fremden Stimme meldete.
»Ich bin Kurts Bruder«, erklärte er. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, doch Kurt ist seit gestern Mittag in Untersuchungshaft, weil in einem Mordfall gegen ihn ermittelt wird.«
Sie hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Allein die Tatsache, dass sie wusste, wer mit Kurt gemeint war, bestätigte ihm, dass er die richtige Frau am Apparat hatte.
»Der Mord passierte Freitagnacht, und ich weiß, dass Kurt den Abend mit Ihnen verbracht hat«, sprach Hogart weiter. »Ich weiß genauso gut wie Sie, dass er unschuldig ist. Das Problem ist, dass er sein Alibi nicht preisgibt und …«
»Hören Sie!«, unterbrach sie ihn. »Ich bin mit meinem Mann unterwegs zum Einkaufen. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, und ich habe keine Zeit, mich länger mit Ihnen zu unterhalten.«
Hogart starrte aus dem Fenster. Es war knapp nach elf Uhr vormittags. Was für eine Frechheit von ihm, so einfach inmitten eines netten Familieneinkaufs hereinzuplatzen! Soeben raste Tatjana auf ihrer Aprilia die Straße hinunter und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus.
»Sie sind Kurts einzige Chance auf ein Alibi«, sagte Hogart mit bemüht sanfter Stimme. »Ich weiß, es ist eine verzwickte Situation, aber falls Sie nicht mit der Kripo reden, um auszusagen, bleibt Kurt für längere Zeit in Untersuchungshaft.«
Die Frau schwieg eine Weile. Hogart konnte förmlich hören, wie die Rädchen hinter ihren Schläfen auf Hochtouren liefen. Bestimmt zermarterte sie sich das Gehirn, wie er dahintergekommen war, dass sie ein Verhältnis mit ihrem Chiropraktiker hatte, ohne die Möglichkeit zu haben, ihn danach zu fragen. Schließlich hörte Hogart im Hintergrund zwei zankende Kinder, dann eine Männerstimme. Wer ist dran, Schatz?
»Keine Ahnung, ein Verrückter!«
»Nicht auflegen!«, rief Hogart. »Wir finden einen Weg, wie …«
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, unterbrach sie ihn. Danach hörte er nur noch das Besetztzeichen in der Leitung.
Victoria Berger kämpfte genauso um ihre Ehe wie Kurt. Hogart würde sie nie zum Sprechen bringen. Während er den Kopf auf die Hände stützte und die Augen schloss, um nachzudenken, öffnete sich die Tür zur Praxis.
Tatjana stürzte aufgeregt herein. Sie hielt noch den Schlüsselbund und den Motocross-Helm in der Hand. »Mama sagte mir, dass du hier bist, und ich soll nachsehen, was du hier treibst …«
Hogart trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ich denke nach.«
»Die Polizei durchsucht gerade unsere Wohnung. Kannst du nichts dagegen unternehmen?«
»Mach dir keine Sorgen. Was sollen die schon finden? Dein Vater hat nichts mit den Morden zu tun. Allein der Gedanke daran ist lächerlich …«
Hogart verstummte. Tatjanas Gesichtsausdruck strafte seine Aussage Lügen. Er fuhr vom Ledersessel hoch. »Was haben die gefunden?«
»Ich habe gesehen, wie sie etwas aus dem Wohnzimmerschrank in Plastiktüten gepackt haben und anschließend sofort zu den Handys griffen. Mutter bekam einen
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