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Die Engelsmuehle

Die Engelsmuehle

Titel: Die Engelsmuehle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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zwanzigjahre alten Dokumente gelesen hatte.
    Nach einem Bananensplit für Tatjana und mehreren großen schwarzen Mokkas für ihn kristallisierte sich folgendes Bild heraus: Die Röntgenaufnahmen vom Mai 1988 zeigten einen komplizierten Lendenwirbelbruch. Hogart war kein Fachmann auf diesem Gebiet, doch entsprechend dem medizinischen Befund handelte es sich um die Wirbelsäule der damals dreiundzwanzigjährigen Linda Bohmann. Beim Sturz über die Treppe ihres Elternhauses hatte sie sich den ersten Lendenwirbel gebrochen. Dabei waren die Nervenbahnen glatt durchtrennt worden. Zudem hatten zahlreiche Knochensplitter das Rückenmark verletzt. Die Ärzte sprachen von völlig irreparablen Schäden. Trotzdem hatte der damalige Chef der Neurochirurgie, Primär Abel Ostrovsky, während einer Operation versucht, Lindas Rückenmark zu versteifen und die Wirbelsäule ober- und unterhalb der Bruchstelle mit Platten und Schrauben zu stabilisieren. Linda trug ein halbes Jahr ein Gipsmieder. Seit diesem Unfall musste sie, aufgrund einer Empfehlung von Doktor Faltl, regelmäßig zur Untersuchung in die Klinik des Neurologen Harald Dornauer. Eine fünf Jahre alte Röntgenaufnahme zeigte, dass sie die Schrauben und Platten immer noch im Körper trug.
    So weit hatte sich Hogart die Geschichte bisher auch zusammenreimen können, doch dann stießen Tatjana und er auf Unterlagen, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Offensichtlich handelte es sich dabei um Kopien jener Akten, die der Killer aus dem Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals gestohlen hatte. Diesem medizinischen Bericht und der Gedächtnisnotiz eines Arztes zufolge war Linda nicht einfach wegen einer Unachtsamkeit die Treppe ihres Elternhauses hinuntergestürzt, sondern während eines Streits mit ihrer Schwester. Linda wurde von Madeleine attackiert und mehrmals mit einer Stichwaffe am Oberschenkel verletzt. Erst als Linda zusammenbrach, stolperte sie rücklings die Stufen hinunter.
    Was bisher wie ein gewöhnlicher Haushaltsunfall ausgesehen hatte, entpuppte sich nun als Mordversuch. Während Ostrovsky 1988 an der Wirbelsäule operierte, behandelte Faltl die Stichverletzungen. Eine Arterie war getroffen worden, doch Faltl konnte die Blutung stoppen und Lindas Bein retten. Zwei Fotos belegten, wie Lindas Oberschenkel nach der Operation aussah. Mit zahlreichen Stichen, die kreuz und quer hässliche Narben hinterlassen würden, waren Haut und Muskeln vernäht worden - das Resultat von mehr als einem Dutzend tiefer Einstiche.
    Hogart wurde übel. Er sah kurz von den Fotos auf. Demnach hatte Linda also auch Doktor Faltl gekannt. Wie aus den Unterlagen hervorging, war Primär Ostrovsky ein enger Freund der Familie Bohmann gewesen. Vermutlich war das der Grund, weshalb es nie zu einer Anzeige oder einem Polizeiprotokoll gekommen war und die Familie den Streit als Haushaltsunfall vertuscht hatte. Doch weswegen hatte sich Faltl damals eine Kopie des Gedächtnisprotokolls, sämtlicher Fotos und Unterlagen gemacht?
    Hogart wickelte den Negativstreifen auseinander und hielt ihn vor die Fensterscheibe. Total unterbelichtet - bis auf helle Flecken war nichts zu erkennen.
    »Schau dir das mal an.« Tatjana zeigte Hogart das Foto einer blutverschmierten Schere. Die Tatwaffe! Sie steckte bis zum Griff in Lindas Oberschenkel, von wo Faltl sie rausoperiert hatte. Unwillkürlich musste Hogart an Ostrovsky und Domauer denken, deren Körper mit einer Schere verstümmelt worden waren.
    »Die Frau ist verrückt.« Hogart rollte den Filmstreifen zusammen.
    Wie zum Beweis zog Tatjana ein psychiatrisches Gutachten aus den Unterlagen hervor. Nach der Attacke auf ihre Schwester war Madeleine einige Monate im psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien, der Baumgartner Höhe, in Behandlung gewesen. Zahlreiche Protokolle beschrieben Madeleines Geisteszustand als abnorm, krankhaft eifersüchtig, aber überdurchschnittlich intelligent. Sie litt unter Verhaltensstörungen, war manisch-depressiv und wies suizidale Tendenzen auf. Bereits ihre Großmutter, die ebenfalls manisch-depressiv gewesen war, hatte im psychiatrischen Zentrum Steinhof, dem Vorgänger der Baumgartner Höhe, Selbstmord verübt. Wenn man es genau nahm, könnte eines dieser Atteste sogar Madeleines Entmündigung erwirken.
    Hogart schloss den Bericht. Ihn schauderte bei dem Gedanken, dass er mit dieser amazonenhaften Frau, die er so begehrte, beinahe im Bett gelandet war. Bisher hatte er immer von sich gedacht, einen vernünftigen

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