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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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walten zu lassen. Allerhöchste Zeit. Rasch leerte sie ihren Becher und trat in den sonnigen Hof.
    «Guten Morgen», sagte sie und bemühte sich um einen besonders herzlichen Ton und einen unverfänglichen Anfang: «Wo sind die Kinder?»
    «Lass sie das nicht hören», antwortete Rosina leichthin, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. «Es ist gegen die Abmachung. Nenne sie dreimal Kinder und sie dürfen sich einen ganzen Tag lang auch wieder so benehmen. Erspar uns das bitte. Wenn ich mich richtig erinnere, wäre dies genau das dritte Mal gewesen. Glaubst du, wir sollten dieses Hemd noch mitnehmen?»
    Sie zog einen gelblichen, mit grober, mehr als brüchiger Spitze besetzten Fetzen Leinen aus der Truhe, spannte ihn zwischen beiden Händen gegen die Sonne und betrachtete ihn stirnrunzelnd.
    «Es ist beinahe durchsichtig und so oft geflickt, ich bin sicher, beim nächsten Atemzug fällt es auseinander. Gesine hebt einfach alles auf. Aus einem solchen Ding kann doch selbst sie nichts Brauchbares mehr zaubern.»
    «Wirf es in den Korb für die Putzlumpen.» Helena schob ihr mit der Schuhspitze einen kleinen, schon gut gefüllten Korb zu. «Irgendwie müssen wir unser Gepäck mindern, auch wenn ein Hemd mehr oder weniger nur geringen Effekt macht. Die Krögerin wird sich über ihren gefüllten Lumpenkorb freuen. Weißt du, wo sie sind?»
    «Die Kinder? In unserer Kammer. Sie lernen Englisch. Jedenfalls haben sie das versprochen. Frag mich nicht, was sie wirklich tun.»
    Seit Wochen lernte die ganze Becker’sche Komödiantengesellschaft Englisch. Mehr oder weniger. Rosina zeigte sich zwar als strenge Lehrmeisterin, dennoch ließen die Fortschritte zu wünschen übrig. Vor allem bei Jean. Er beharrte darauf, als Prinzipal einer renommierten
compagnie
– seit der Aufnahme von Monsieur Rousseaus berühmtem Singspiel in das Becker’sche Repertoire sprach er nicht mehr von Komödiantengesellschaft – habe er nurdas Französische zu beherrschen. Und an dieser Sprache, die unter Fürsten und Künstlern in der ganzen Welt verstanden werde, sei in seinem Kopf kein Mangel. Das reiche völlig.
    Den Hinweis seiner liebenden, gleichwohl weder blinden noch tauben Gattin, sie habe bisher noch nichts von diesen superben Fähigkeiten bemerkt, es sei denn, es gehe um das Kartenspiel, teuren Bordeaux oder Tändelworte für wohlgerundete Putzmacherinnen, überhörte er mit der ihm eigenen Grandezza. Jean liebte Helena, und er hatte für sich beschlossen, dass diese Liebe nur vorhalte, wenn er ihre leider allzu oft ins Schwarze treffende Scharfzüngigkeit hin und wieder ignorierte.
    Helena, Gesine, Rudolf und Titus absolvierten ihren Unterricht mit ergebener Geduld, wobei Titus nie versäumte, darauf hinzuweisen, dass ein wenig Kenntnis dieser seltsamen Sprache völlig genüge. Schließlich wimmele es in London nur so von Deutschen, selbst die Königsfamilie stamme aus Hannover und mindestens der halbe Hofstaat auch. So konnte Rosina ihn selbst mit großer Mühe nicht davon überzeugen, die englischen Wörter auch englisch statt deutsch auszusprechen.
    Muto habe es gut, hatte Titus geknurrt, als Rosina ihm deshalb wieder einmal eine Epistel hielt, der Junge brauche nur das Hören zu üben. Nun sehe man, manchmal sei das Stummsein auch von Vorteil. Zum Glück war Muto gerade nicht in der Nähe gewesen.
    «Und das hier?» Ein fleckiger blaugrauer Lappen, Beweis eines missglückten Färbeversuchs, wedelte vor Helenas Gesicht.
    «Das nehmen wir mit. Daraus macht Gesine noch was.» Helena knabberte einen winzigen Brocken von derBrotscheibe, setzte sich auf den Hauklotz, der an der Schuppenwand stand, und räusperte sich. Warum war aller Anfang nur so schwer? «Was ich neulich gesagt habe, tut mir Leid», begann sie rasch.
    Endlich ließ Rosina die Hände sinken und sah auf. «Was meinst du?», fragte sie.
    «Nun ja», Helenas Finger rollten kleine Kügelchen aus dem frischen Brot, «vielleicht geht es mehr um das, was ich
nicht
gesagt habe. Ich war nicht sehr nett in der letzten Zeit. Du meine Güte, es ist so schwer. Ich freue mich natürlich, dass du dich mit deinem Vater versöhnen konntest, bevor er starb, und dass du nun nicht mehr so viele Sorgen um das tägliche Brot haben musst. Und heute Morgen, ich weiß nicht, es ist ein so schöner Morgen, so schön, dass mir die Reise nach England gar nicht mehr so, so – nun ja, so überflüssig erscheint. Ich war dir gram, weil du Jean dazu überredet hast, aber jetzt   …»
    «Ich habe ihn nicht

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