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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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aus einem der geheimnisvollen Shakespeare’schen Sonette.
    «…   könnt ich die Schönheit Eurer Augen malen
    und Eure Reize neu in Verse reihn,
    die Zukunft spräche: Hört den Dichter prahlen;
    nie traf ein Antlitz solcher Himmelsschein.»
    Die Hochzeitsgäste, zumeist nur an grobere Verse gewöhnt, waren nicht beeindruckt. Umso mehr Helena, deren Blick er bei den der unvergänglichen, gleichwohl nie ganz sicheren Liebe und Schönheit huldigenden Worten festhielt. Dieser Beweis seiner Gefühle würde sie noch lange milde stimmen und manche seiner Eskapaden großzügig hinnehmen lassen. So gewährte sie Jean gleich an diesem Morgen seinen langen erholsamen Schlaf.
    Als sie in der Küche rasch einen Becher Milch trank und ein Stück Roggenbrot abschnitt, entdeckte sie durch das Fenster zum Hof Rosina. Die beugte sich tief über eine der großen geflochtenen Reisetruhen, ein Anblick, der Helena umgehend schwindeln ließ. Ihr Kopf schien mit nichts als Watte gefüllt, mit Rotwein getränkter Watte. Dennoch fühlte sie sich voller Tatendrang. Zum ersten Mal in den letzten Wochen spürte sie nicht mehr diese Unruhe vor der nahen Reise in eine unbekannte Welt.
    Jean hatte beständig versichert, die Reise nach England sei die Chance ihres Lebens und für ihre Kunst. Wo sonst als im Land des größten aller Theaterdichter, das auch die Schauspieler verehre wie Fürsten (was sie nieund nimmer glauben mochte!), könne eine Komödiantentruppe neu erblühen? Er hatte tatsächlich ‹erblühen› gesagt, was Helena noch misstrauischer machte, und ihren zornigen Einwand, die Becker’sche Komödiantengesellschaft stehe seit Jahren in voller Blüte, dazu brauche es keine gefahrvolle Reise über das Meer und in ein fremdes Land, hatte er nur mit einem Hilfe suchenden Blick zu Rosina beantwortet. Das war ein Fehler gewesen, denn Rosina trug schließlich an allem die Schuld.
    Helena trat an die Tür zum Hof und blickte auf die junge Frau mit den dicken, zu einem festen Zopf geflochtenen blonden Locken, die immer noch den Inhalt der großen Weidentruhe inspizierte. Rosina gehörte nun schon seit einem Jahrzehnt zur Becker’schen Gesellschaft, nach den gemeinsamen guten wie schweren Zeiten waren sie einander lieb und vertraut wie Schwestern. Helena, die um gut zehn Jahre ältere und in der Rangfolge erste Frau der Gesellschaft, hatte Rosinas besondere Art bald akzeptiert. Jean hatte das als Page verkleidete Mädchen in einer kalten Regennacht auf einer Straße im Sächsischen aufgelesen und mit in ihre Herberge gebracht. Sie hatten schnell ihre Talente entdeckt und gefördert, und besonders Helena hatte Rosina beschützt und verteidigt, wann immer deren eigensinniger Kopf wieder einmal Kalamitäten verursachte. Jedenfalls meistens.
    Doch das letzte Jahr hatte alles verändert. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, konnte sie Rosina nicht mehr so sehen wie in all den Jahren zuvor. Sie hatte immer gewusst, dass Rosina anders war, alle hatten das gewusst, und es hatte sie nie gestört. Dass Rosina nun reich war, gewiss nicht in den Augen einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie,aber doch für eine Wanderkomödiantin, die zum Sattwerden oft am Abend ausgeben musste, was sie am Tag eingenommen hatte, brachte alles aus dem Lot. Den größten Teil ihres Erbes hatte sie in ein mehr als zweifelhaftes Abenteuer gesteckt, nämlich in die Entwicklung eines Verfahrens zur Zuckergewinnung aus ganz gewöhnlichen Rüben, und der Rest würde mit dem nächsten Abenteuer, der Reise der Becker’schen Gesellschaft nach London, dahinschmelzen wie Butter in der Sonne. Doch das machte es kaum besser und war gewiss kein Trost.
    Es ging einfach nicht an, dass eine von ihnen ein gemeinsames Unternehmen finanzierte, für das die Kasse der Gesellschaft allein niemals reichen konnte. Jean war der Prinzipal, sie, Helena, die Prinzipalin. Was waren sie, was war Rosina, wenn die plötzlich zur Mäzenin wurde? Jeans Beteuerung, er nehme Rosinas Geld nur als Darlehen, bis die Londoner, die allesamt das Theater liebten wie kein anderes Volk auf der Welt, ihre Kasse füllten, hatte Helena noch mehr erzürnt. Er war immer ein Traumtänzer gewesen, ein solcher Traum jedoch war reine Torheit. Bisher hatte der Mangel an Geld zu Kummer und Verdruss geführt. Sie hatte nie gedacht, dass Überfluss ihre Seele beschweren könnte.
    An diesem schönen Morgen nach einer schönen Nacht erschien ihr Groll ihr plötzlich kleinlich und engherzig. Es war höchste Zeit, wieder Vernunft

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