Die englische Episode
eifrigen Bewegungen seiner Hände, dem raschen Wechselspiel seiner Mimik erzählte der Junge ihr in seiner lautlosen Sprache von seiner Begeisterung über den Blick auf die Stadt, seiner Freude auf die Wochen und Monate, die nun vor ihnen lagen.
«Natürlich wird es wunderbar, Muto», rief sie lachend, umarmte ihn rasch und fühlte endlich selbst die kindliche Freude, die aus seinen Augen sprach. Niemand wusste genau, wie alt er war, falls er es selbst wusste, hatte er es nicht verraten, er musste etwa so viele Jahre zählen wie Manon, beinahe sechzehn, vielleicht eines mehr. Als sie selbst so alt war, lebte sie schon bei den Becker’schen Komödianten. Sie hatte immer gedacht, dass sie schwere Jahre erlebt hatte. Besonders die Zeit nach ihrer Flucht, als die Sehnsucht nach dem Leben, das es für sie nie mehr geben würde, sie in vielen Nächten quälte wie ein Fieber. Aber Muto? Was musste ein Kind erleben, damit es aufhörte zu sprechen?
Wieder spürte sie seine Hand, aufgeregt zeigte er aufeine Barke, die zwischen all den anderen Booten und Schiffen wie eine schwimmende fürstliche Kutsche erschien. Sie war an Bug und Heck reich vergoldet und wurde von zwölf Männern gerudert. Ein mit Fahnen geschmücktes Dach überspannte auf vergoldeten Säulen die vordere Hälfte des Bootes. Sie konnte keine Gäste entdecken, nur einige Musiker, ihre Instrumente noch müßig in den Händen.
«Komm.» Sie strubbelte ihm durch sein rostrotes Haar, was er wie immer, seit er sich erwachsen fühlte, mit halbem Lachen und unwirscher Gebärde abwehrte. «Lass uns zu den anderen gehen. Der Zoll kommt gleich an Bord, da ist es besser, wenn wir uns zusammenrotten. Die Männer vom Zoll werden hier kaum netter sein als anderswo.»
Die Londoner Zöllner machten ihrem Ruf von besonderer Strenge und Gründlichkeit alle Ehre. Bevor sie sich der Ladung der
Dora Neel
widmeten, durchsuchten sie die Passagiere und deren kleinere Gepäckstücke, als gelte es, abhanden gekommene Kronjuwelen wiederzufinden. Kein Taschentuch, kein Blatt Papier blieb ungewendet, jeder Schuh, jedes Beutelchen wurde ausgetastet, die Leibesvisitation bis in die Achselhöhlen und unter die Überröcke zur beschämenden Prozedur.
Die Komödianten hatten in ihren Wanderjahren unzählige Zollstationen passiert, sie ertrugen die Prüfungen widerwillig, doch mit äußerlichem Gleichmut. Die beiden neuen Mitglieder der Gesellschaft jedoch fühlten sich tief beleidigt. Nur mit Mühe konnte Jean Adam Wagner, seinen neuen Mann für stumme Rollen, von Handgreiflichkeiten abhalten, als dessen junge Ehefrau aufgefordert wurde, nicht nur ihr Brusttuch abzulegen, sondern auch ihren Überrock zu lösen.
Schließlich war es überstanden, und die Boote für die Überfahrt zur Stadt machten an der
Dora Neel
fest. Das erste lud die großen Gepäckstücke, die im Zollhaus gründlich geprüft werden mussten, bevor die Komödianten sie dort abholen konnten. Das war selbst Jean zu viel gewesen, doch sein Protest blieb völlig unbeachtet.
Das zweite Boot nahm die Passagiere auf. Wagner stand bis zuletzt an der Reling, die Fäuste fest an das harte Holz geklammert, die Lippen grimmig zusammengepresst, und sah auf das schwankende Flussboot hinab.
«So komm doch, Adam», rief Karla. Ihr sonnenverbranntes Gesicht strahlte in kindlicher Freude. «Es ist ganz leicht und das Boot schaukelt wie eine Wiege.»
Woraufhin er würgend auf die andere Seite des Schiffes floh. Doch endlich bewältigte auch Wagner die Strickleiter, und die Männer an den Riemen suchten sich geschickt den Weg zwischen den dicken Bäuchen der anderen vor Anker liegenden Schiffe und der dazwischen hin und her wuselnden Boote.
Rosina seufzte. Nur gut, dass Wagner nicht wusste, dass die Fahrt noch weiter stromaufwärts ging, unter der London Bridge, dann unter der nagelneuen Blackfriars Bridge hindurch bis zum Anleger nahe Covent Garden.
Sie mochte Wagner. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn für ungeschickt, gar für dumm gehalten, nun wusste sie längst, dass er vielleicht ein wenig langsam, doch umso gründlicher war, ein schlauer Beobachter, der mehr sah, hörte und spürte als viele, die mit Schnelligkeit beeindruckten. Und er war ein zuverlässiger Freund. Trotzdem hatte sie mit Jean über ‹den Befehl› des Senators gestritten.
«Was heißt hier Befehl?», hatte sie gerufen. «Er bestelltdich ins Rathaus, macht dir einen albernen Vorschlag, und du nennst das Befehl? Wir leben auf den Straßen und sind frei.
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