Die englische Episode
auf den Fahrten zwischen Hamburg und London. Die waren seit dem Ende des Krieges so gefragt, dass in den Reedereien stets Wartelisten auslagen. Er hatte alle Arten von Menschen auf seinem Schiff gehabt. Reiche und adelige Herrschaften wie Hungerleider, junge Handwerker auf der Suche nach Arbeit, Seeleute und Abenteurer unterwegs zu ihren in London oder Bristol wartenden Schiffen in die weite Welt, honorige Kaufleute, neugierige Gelehrte und zweifelhafte Damen.Auch Spieler und Trunkenbolde waren immer wieder darunter.
Sie kümmerten ihn nicht. Diese menschliche Fracht jedoch, die ihm der junge Herrmanns gleich als so vielköpfige Gesellschaft aufgehalst hatte, hatte ihm Unbehagen bereitet. Allesamt Wanderkomödianten – was musste man da erwarten? Immerhin keinen Ärger mit anderen Passagieren, denn für die würde es keinen Platz mehr geben.
Nun, am Ende der Reise, konnte er sich nicht erinnern, je eine so vergnügte und unterhaltsame Fahrt gemacht zu haben. Der Prinzipal war ein großer Geschichtenerzähler, und die Damen, er dachte tatsächlich ‹Damen› und wunderte sich nicht einmal darüber, hatten sich ganz anders benommen, als seine Männer erhofft und er befürchtet hatten. Eines Tages würde er womöglich selbst ein Theater besuchen. Wenn dort alle waren wie diese hier, konnte es ganz manierlich werden. Am schönsten hatte er es gefunden, wenn Madame Becker und Mademoiselle Rosina am Abend gemeinsam sangen. Die dunkle und die hellere Stimme, dazu das Flötenspiel von dem Jungen mit dem weißblonden Krauskopf, dessen Namen er immer vergaß, darin konnte er nichts Sündiges erkennen. Bei Gott nicht.
Er sah sich noch einmal nach der jungen Frau an der Reling um, die immer noch still auf die Silhouette der großen Stadt blickte. Sie war eine seltsame Person. Wenn sie sang oder eine Szene aus den Stücken der Compagnie vorspielte, war sie ganz eine Komödiantin. Kokett, verspielt, auch aufreizend. Waren Lied oder Szene zu Ende, wenn er sie bei den Mahlzeiten oder allein an Deck traf, war sie eine völlig andere Person. Höflich, freundlich, daswohl, aber alles Komödiantische, Kokette fehlte dann. Er hatte nicht gedacht, dass eine junge Frau, die auf dem Komödiantenkarren unterwegs war, eine so ruhige, beinahe unnahbare Person sein könnte. Als sie seinen Blick bemerkte und sich nach ihm umdrehte, nickte er ihr zu und ging in seine Kajüte. Er hoffte, London werde sie nicht enttäuschen. Viele verließen die Stadt enttäuscht, nicht, weil London schlecht, sondern weil die Erwartungen falsch gewesen waren.
Rosina sah, wie sich die Tür der Kapitänskajüte schloss, und wandte ihren Blick wieder dem Fluss und der Stadt zu. Was sie sah, erschien ihr nicht real, sondern wie ein besonders gelungener Prospekt am Ende einer großen Bühne. Die Lieblichkeit der Flussufer, die sie in den letzten Stunden passiert hatten, hatte sie kaum berührt. Sie hatte immer nach vorne gesehen, dorthin, wo bald die ersten Türme von London auftauchen mussten. Nun waren sie da und sie fand sich überwältigt von der Größe der Stadt, von dem Lärm und den Ausdünstungen, die herüberdrangen, von dem tanzenden Gedränge der Boote auf dem Fluss.
Und dann hing da diese dunkle Wolke über dem Ozean von Dächern, aus dem schlanke sandfarbene Kirchtürme aufragten wie Masten. Gab es eine zweite Stadt mit so zahlreichen Kirchen? Und mittendrin, nahe der London Bridge, erhob sich die gut zweihundert Fuß hohe steinerne Säule, die an das große Feuer erinnerte, das am Ende eines heißen Sommers vor gut hundert Jahren beinahe die gesamte City verschlungen hatte.
Am höchsten, über den Dunst des Steinkohlenrauchs hinaus, erhob sich jedoch die neue Kuppel von St. Paul. David hatte ihr von der Pracht der Kathedrale erzählt, einerder größten der Welt, von ihrem Glanz und Reichtum, 365 Fuß hoch, einen für jeden Tag des Jahres, für die Zeit, die die Erde braucht, um sich einmal um die Sonne zu drehen. Er hatte von der geheimnisvollen Anmutung ihrer von einem goldenen Kreuz gekrönten Kuppel an einem verhangenen Tag gesprochen, und sie hatte gedacht, die Sehnsucht nach seiner Heimatstadt verzaubere die Bilder seiner Erinnerung. Aber es stimmte. Nie zuvor hatte sie eine so stolze Kuppel gesehen, nicht einmal in Dresden, von dem sie stets gedacht hatte, der Kunst seiner Baumeister könne nichts gleichkommen.
Sie fühlte eine leichte Berührung an ihrem Arm und schüttelte den Anflug von Melancholie ab. Muto stand neben ihr, mit
Weitere Kostenlose Bücher