Die englische Episode
hätte. Eine Diebin und den Mann, der sie dazu angestiftet hat, erst recht nicht. Sie hängen nur Diebe, die in England gestohlen haben.»
«Das stimmt. Leider. Aber in dieser Angelegenheit geht es um erhebliche Werte – das lässt auch die Engländer vernünftig sein.»
London 1770 im Mai
KAPITEL 3
Die
Dora Neel
erreichte am frühen Nachmittag ihren Ankerplatz vor St. Catherines, wo die Hamburger Schiffer ihre zugewiesenen Plätze hatten. Der Londoner Hafen war längst viel zu klein für Europas größte Stadt und Umschlagplatz für Waren aus der ganzen bekannten Welt. Manchmal mussten Schiffer tagelang auf dem Fluss warten, bevor in dem Gewusel von Schiffen und Booten endlich ein Ankerplatz nahe den Ufern der City frei wurde. Das war gut für die Konkurrenz in Bristol und Liverpool, schlecht für den Londoner Handel. Immer lauter wurden die Forderungen nach einem neuen Hafen außerhalb der alten Stadt, nach geräumigen Lagerhallen an Wasserbecken, die auch für die Großsegler mit Fracht aus den amerikanischen Kolonien, aus West- und Ostindien tief genug waren, um direkt an den Piers anzulegen. Die flachen Ufer der Themse zwangen Schiffe, die größer als ein Ruderboot oder bescheidene Einmaster waren, weit im Fluss zu ankern. Ladung, Menschen, alles, was ein Schiff verlassen oder erreichen wollte, musste in kleine Boote umgeladen und zu den Anlegern am dicht bebauten Ufer gebracht werden.
Der Kapitän der
Dora Neel
bezahlte und verabschiedete zufrieden den Lotsen. Er war die Themse nun schon unzählige Male herauf- und heruntergefahren und kanntesie mindestens so gut wie die Elbe, aber wie dort war auch auf dem Fluss durch Englands Süden ein Lotse Pflicht. Die Sände in der Themse standen denen in der Elbe an Tücke und Beweglichkeit kaum nach, daran erinnerten auch die beiden Mastspitzen des Wracks, die mit jeder Ebbe in der breiten Mündung nahe der Isle of Sheppey aus dem Wasser auftauchten. Im Übrigen schätzte er die Lotsen auch, weil ihr Einsatz ihm erlaubte, sich mehr an Flussufern und Hafeneinfahrten zu erfreuen. Er fuhr seit mehr als dreißig Jahren zur See und galt als strenger Mann, doch in der Tiefe seiner Seele war er ein romantischer Mensch geblieben.
Natürlich hätte er jederzeit beschworen, dass es keine schönere Fahrt gebe als die von Neuwerk die Elbe hinauf bis nach Hamburg. Doch wenn er auf der Themse nach London segelte, war er sich dessen nicht mehr sicher. Besonders an einem sonnigen Maitag wie diesem. Die Lieblichkeit der grünen Hügellandschaft, die saftigen, gegen den Wind mit Hecken und Bäumen eingefassten Felder, die Dörfer, die vom Wasser her aussahen, als kennten sie weder Hunger noch Leid. Dazwischen die prächtigen Landsitze inmitten ihrer Gärten und Parks – allen voran das Königliche Marine Hospital in Greenwich mit seinen eleganten weißen Säulen und grauen Kuppeln am südlichen Ufer, das Queen Mary einst für altgediente Seeleute hatte bauen lassen. Was für ein Gegensatz zu dem wilden, kaum bewohnten Sumpfland in der großen Themseschleife, der Isle of Dogs. Schließlich die Docks und Werften von Rotherhithe am südlichen Ufer schon beinahe dem Tower gegenüber. All das gab ihm das Gefühl heimzukommen. Ein falsches Gefühl, denn er war hier nicht zu Hause. Vielleicht, so hatte er sich überlegt,zeigten begrünte Ufer nach den Wasserwüsten der Meere einem Menschen stets Heimat. Dennoch, an Nebeltagen, wenn die Fahrt auf dem Fluss zum Vabanquespiel geriet, kam es vor, dass er London und die Themse verfluchte.
Als die Ankerkette rasselte, sah er sich nach seinen Passagieren um. Die meisten standen nahe am Bug, mit gereckten Hälsen und aufgeregten Stimmen, nur einer fehlte, der kleine dicke Mann kurierte wohl immer noch unter Deck seine Übelkeit aus. Und Mademoiselle Rosina stand wieder ein wenig abseits an Steuerbord. So hatte er sie oft gesehen, manchmal auch in der Nacht unter den Myriaden von Sternen. Nirgendwo war der Himmel von so grausamer Schönheit wie auf See, besonders nach Sonnenuntergang. Sie hatten Glück gehabt auf dieser Fahrt, der Wettergott war vom ersten bis zum letzten Tag mit ihnen gewesen, immer klar und günstiger Wind. Nur sechs Tage hatten sie gebraucht. Bei Nebel, wenn nichts mehr half, als zu ankern und ständig das warnende Horn zu blasen, und bei schlechtem Wind konnte die Fahrt die Elbe hinunter, über die Nordsee und durch den Kanal Wochen dauern.
Auf fast jeder Fahrt nahm die
Dora Neel
auch einige Passagiere mit, besonders
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