Die englische Episode
man bedenkt, dass dort nicht nur Tiere ihr Leben lassen. Erst vor wenigen Tagen …»
«Augusta», rief Cilly schrill, «meine Liebe, du solltest
unbedingt
von dem Holunderblütenwein probieren, und Mr. Bach muss uns
unbedingt
erzählen, welche Fortschritte der Prinz von Wales auf dem Spinett …»
«Gern, meine Liebe.» Augusta hielt dem Diener, der sofort mit der Karaffe herbeigeeilt war, ihr Glas entgegen und fuhr zum unverhohlenen Amüsement ihres Tischnachbarn unerschüttert fort: «Erst vor wenigen Tagen ist ein Tuchhändler über die Brüstung gestolpert und denBestien zum Opfer gefallen. Ihr mögt meine Seele für zu wenig sanft halten», fuhr sie mit süßem Lächeln zu Graf Alwitz gewandt fort, «ich möchte dennoch zu gerne wissen, wie das geschehen konnte.»
«Sanftheit ist eine Sache der Relation, Madame, ich würde nie wagen, sie Euch abzusprechen. Aber für eine Antwort bin ich der Falsche. Wie Ihr habe ich von diesem bedauerlichen Unfall nur gehört. Ich weiß keine Einzelheiten und bin sicher, auch niemand sonst an dieser Tafel.»
Cilly entspannte sich zu früh.
«Schade», rief Professor Gothat, der in seiner Jugend auch einige Male die Cockpits besucht hatte. «Wirklich schade. Würde gerne Genaues darüber hören, und du auch, was, Laetitia? Du warst doch nie zimperlich.»
Die Bischofswitwe nickte errötend, womöglich war sie nur nicht gewöhnt zu widersprechen, und die Stimmen rund um die Tafel brandeten in Mutmaßungen und Erwägungen auf, bis ausgerechnet der schweigsame Mr. Abel laut verkündete, wenn es gewünscht sei, könne er als Zeuge des bedauerlichen Vorfalls genaue Auskunft geben. Schlagartig wurde es still und alle Augen richteten sich auf den Gambenspieler der Königin, dem niemand solche Kenntnisse je zugetraut hatte, am wenigsten, dass er sie preisgeben würde.
Cilly seufzte ergeben, gab Joseph ein Zeichen, er möge den Orangenbrandy für die Damen bereithalten, und beugte sich wie die meisten anderen vor, um nur kein Wörtchen zu versäumen. Diese Vorstellung versprach der wahre Höhepunkt des Abends zu werden, das noch zu erwartende Konzert der berühmten Musiker konnte damit kaum konkurrieren.
Mr. Abel war ein ausgezeichneter Musiker, seine Erzählkunst hingegen ließ einiges zu wünschen übrig. Es wurde allgemein bedauert, dass er sich selbst durch eifriges Nachfragen nicht dazu verleiten ließ, das blutige Geschehen auch blutig zu schildern. Er berichtete nur kurz und knapp die Tatsachen, nämlich dass Mr. Webber nicht an der Brüstung gestanden, sondern im Korb über der Arena gehockt habe, das Seil gerissen und der Korb hinuntergesaust sei, direkt zwischen die beiden Hunde, und er so ein Opfer der Mastiffs geworden war. Selbst das üblicherweise folgende ‹Ich denke …›, ‹Ganz gewiss sind …› oder ‹Auf jeden Fall wird …› überließ er der plötzlich äußerst angeregten Tischgesellschaft. Brandy wurde nicht gebraucht. Nicht einmal von der zarten Laetitia, obwohl sie beharrlich gegen Mr. Cutler und Mr. Gothat dafür stritt, dass Mastiffs eigentlich sehr liebe und treue Gefährten seien.
So verging der zweite Gang wie im Flug, auch Mr. Abel zeigte nun Appetit und widmete sich – schweigend – dem Fasan in einem Ragout aus Morcheln und Trüffeln, Pilzen, Artischockenböden, Spargelspitzen und Taubenlebern, ein Genuss, den er mit einer beachtlichen Portion ‹Mondschein› genannten Zitronencreme und einer Schale Erdbeereis abrundete.
***
Stanton Bixborn war hundemüde. Gewöhnlich ging er zu Bett, nachdem der Abendgesang aus dem Findelkinderheim herübergeklungen war, und das musste nun schon eine Stunde her sein. Oder gar zwei? Er besaß keine Uhr und hatte nicht auf die Glockenschläge von der Kirchedes Heims geachtet. Einerlei, er musste fertig werden, der Wagen kam schon vor Sonnenaufgang. Zu dumm, dass er vergessen hatte, sich im
Red Lion
einen Krug Bier zu holen. Nun war es zu spät. In London fand man zu jeder Tages- und Nachtzeit eine geöffnete Schenke, doch schon am Rande der Stadt, wo außer dem großen Heim nur noch vereinzelte Gehöfte und Katen inmitten der Wiesen oder entlang der Landstraße standen, lebten die Menschen wie auf dem Land mit dem Lauf der Sonne. Bei der Poststation mit ihren Ställen bekäme er sicher noch ein Bier oder einen Gin, das Gasthaus für die Reisenden war gewöhnlich bis Mitternacht geöffnet, aber der Wirt redete ihm zu viel, und wer viel redete, fragte auch viel, das
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