Die englische Freundin
Geräusche aus dem Schuppen noch zu hören. Honor konnte das Weinen nicht mehr mit anhören. Sie bemerkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und atmete tief aus. »Bitte, hol das Kind herein«, sagte sie zu Belle. »Ich will nicht, dass es wegen mir frieren muss. Notfalls lüge ich Donovan auch an.«
Belle nickte und schob die Decke zur Seite. »Alles in Ordnung, Virginie, du kannst sie eine Weile hereinbringen.«
Einen Moment später erschienen ein paar braune Hände im Loch und reichten erst ein Kind hindurch und kurz darauf ein zweites. Belle nahm sie entgegen und stellte sie nebeneinander auf die FüÃe. Es waren völlig identische eineiige Zwillinge, zwei ungefähr fünf Jahre alte Mädchen, die Honor aus groÃen dunklen Augen ansahen. Um ihre ordentlich geflochtenen Zöpfe waren die roten Bänder geschlungen, die Thomasâ Frau am Vortag aus dem Laden mitgenommen hatte. Ernst und stumm standen die Mädchen vor Belle und Honor. Der einzige Unterschied zwischen ihnen waren die laufende Nase und der rasselnde Husten des Mädchens, das gewimmert und geweint hatte.
Als eine graue Haube im Loch auftauchte, schob Belle die Mädchen zur Seite. Honor sah das blassgelbe Futter aufblitzen und zuckte zusammen.
Belle lächelte. »Aha, da ist die Haube also abgeblieben. In der Dunkelheit ist mir das gar nicht aufgefallen. Ich dachte, du hättest sie bei den Haymakers gelassen, Honor, obwohl ich mir lieber nicht vorstelle, was sie damit gemacht hätten. Womöglich als Melkeimer benutzt.« Sie reichte der entflohenen Sklavin die Hand und zog sie durchs Loch. Honor erkannte die schlanke Gestalt mit dem gelblichen Teint und dem unbeirrbaren Blick gleich wieder.
Die Frau blickte Honor an und nickte. »Sie sind also immer noch hier. Und haben Ihr Baby bekommen! Aber ich habe meine Babys jetzt auch bei mir.« Sie legte die Arme um die Mädchen. Jetzt, wo die Mutter neben ihr stand, fühlte sich das Mädchen mit der Erkältung sicher genug, um wieder laut loszuheulen.
»Honor, rühr ihr etwas Himbeermarmelade in heiÃes Wasser«, kommandierte Belle. »Der Kessel hat gerade gekocht. Und gib einen Tropfen Whiskey hinzu. Schau mich nicht so kritisch an â es wird ihr guttun. Ich werde der Kleinen unterdessen einen Brustwickel machen.« Belle blickte zum Fenster, dessen schwerer Vorhang fest zugezogen war, und zu der Tür zwischen Küche und Laden, die ebenfalls geschlossen war. »Lange dürft ihr nicht hier in der Küche bleiben, denn Donovan kommt bestimmt bald zurück. Wir haben ihn einmal an der Nase herumgeführt, sodass er geglaubt hat, ihr wärt noch nicht da, aber so leicht lässt er sich nicht abspeisen. Er wird sich noch mal umschauen wollen.«
»Wann sind die drei denn in den Schuppen geschlüpft?«, fragte Honor.
»Ganz zum Schluss, kurz bevor Donovan gegangen ist. Das ist immer der beste Moment, wenn sie noch da sind, aber mit nichts mehr rechnen. Der alte Thomas hat ihnen geholfen. Er hatte sie im doppelten Boden seines Wagens versteckt. Man muss sich ganz flach hinlegen, und dann wird der falsche Boden über einem zugeschoben. Besonders bequem ist es nicht, stimmtâs Virginie?«
»Hatte Thomas damals, als er mich von Hudson mitgenommen hat, auch einen Flüchtling im Wagen versteckt?« Honor musste daran denken, wie Thomas gelegentlich mit dem Fuà aufgestampft und mit jemandem gesprochen hatte, während sie im Wald gewesen war. AuÃerdem hatte sie unterwegs die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass sie nicht allein waren.
»Jep. Und Donovan weià es bis heute nicht. Er schaut immer unter dem Sitz nach.«
Jetzt, wo sie wusste, dass Honor diese Geheimnisse nicht verraten würde, plauderte Belle munter drauflos. Sie erzählte stolz von den Tricks und Finten, die sie zusammen mit Thomas und den anderen Unterstützern der Underground Railroad entwickelt hatte, um den Flüchtlingen zu helfen.
Dem kranken Kind wurde Himbeerwasser mit Whiskey eingeflöÃt und eine Senfpaste auf die Brust gestrichen, dann forderte Belle Honor auf, durch das Loch in den Schuppen zu kriechen. Er war tiefer, als Honor von drauÃen vermutet hätte. Belle und Thomas hatten das Holz so gestapelt, dass es aussah, als stünde es direkt an der Hauswand, in Wirklichkeit aber war zwischen Wand und Holzstapel eine Lücke. Wenn man sich ganz schmal machte und um den
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