Die Enklave
wundersames Gefühl der Verbundenheit durchströmte mich.
Ich vergaß all meine Sorgen, vergaß alle Gefahr. Mit den Fingerspitzen blätterte ich zur nächsten Seite um, berauscht von meiner wunderbaren Entdeckung.
Es war einmal eine Hexe, die alles wissen wollte. Doch je weiser eine Hexe ist, desto mühseliger wird es am Ende für sie. Ihr Name war Watho, und ein Wolf hauste in ihrem Geist. Sie war an nichts um seiner selbst willen interessiert, sie wollte nur alles darüber wissen. Sie war auch nicht von Natur aus grausam – es war der Wolf, der sie grausam gemacht hatte.
Sie war groß und schön, hatte weiße Haut, rotes Haar und schwarze Augen, in denen ein rotes Feuer brannte. Sie hielt sich aufrecht, und sie war stark, doch dann und wann sank sie in sich zusammen, dann saß sie eine Weile lang zitternd da, den Kopf nach hinten über ihre Schulter verdreht, als wäre der Wolf aus ihrem Geist entwischt und säße auf ihrem Rücken.
»Was hast du da?«, fragte Bleich.
Beinahe hätte ich das Buch vor ihm versteckt, doch dann erinnerte ich mich erleichtert, dass ich das gar nicht musste – vor Bleich musste ich nichts geheimhalten. Wortlos hielt ich ihm das Buch hin. Bleich betrachtete es, und seine Hände waren dabei so behutsam und voller Respekt wie die meinen.
Er las schneller als ich, und als er mit der ersten Seite fertig war, schaute er mich an, die Augen glänzend vor Ehrfurcht.
»Das nehme ich mit«, sagte ich. »Es wiegt nicht viel.«
Bleich legte das Buch in meinen Beutel und machte sich erneut an die Arbeit. Als es wieder dunkel war, hatten wir genug abgekochtes Wasser für mehrere Tage. Insgeheim fürchtete ich mich davor, diesen Ort zu verlassen, denn ich hatte mich schon so an die beiden Räume gewöhnt. Drinnen hatte ich keine Angst. Draußen hing dieser riesige, monströse Himmel über allem, so groß, dass ich mich nur noch verstecken wollte.
Doch auch die Dunkelheit hatte sich verändert. Ich nahm die Sonnenbrille von meinem Gesicht und spähte nach oben. Ein silberner Bogen schimmerte zwischen den hellen Tupfern; er sah aus wie ein Krummdolch, schön und tödlich, als könnte er den Himmel in zwei Stücke zerschneiden.
Ich ließ Bleich nicht merken, wie verängstigt ich war. Stattdessen packte ich meine Ausrüstung zusammen, als würden wir auf Patrouille gehen wie früher. Ich überprüfte meine Waffen und unseren Proviant, dann schulterte ich entschlossen meinen Beutel, wie es sich für eine Jägerin gehörte. Mit der Nacht würde ich zurechtkommen.
Aber du bist keine Jägerin. Du bist nur ein Mädchen mit sechs Narben.
Wenigstens hatte Bleich auch welche. Ich mochte aus der Enklave verstoßen worden sein, aber ich war nicht allein, und das war alles, worauf es ankam. Hätten sie mich alleine nach Oben geschickt, hätte ich bereits aufgegeben. Die Welt hier war einfach zu anders als die, die ich kannte. Doch
Bleichs stille Entschlossenheit gab mir Hoffnung, dass wir eines Tages das grüne Land finden würden, von dem sein Vater ihm erzählt hatte. Wenn wir es nicht schafften, dann weil es nicht existierte, nicht weil wir es nicht versucht hatten.
Als ich nach draußen ging, ertönte ein ohrenbetäubender Knall, der den Boden unter meinen Füßen erzittern ließ. Sofort drückte ich mich mit dem Rücken flach gegen die Mauer. Noch während ich so in Deckung ging, fiel Wasser von oben herab wie aus den Rohren, die wir in der Enklave hatten, nur hundertmal mehr. Ich wurde nass bis auf die Haut, während ich wie angewurzelt dastand, mein Gesicht nach oben gewandt.
»Hab keine Angst. Das ist nur Regen.« Bleich stand so dicht neben mir, dass ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüren konnte. Ein Zittern fuhr durch meinen Körper, ebenso intensiv wie der Lärm am Himmel, der den Boden unter mir erbeben ließ. Jetzt drehte auch er sein Gesicht nach oben und bestaunte das Schauspiel. Ich betrachtete ihn durch diesen silbernen Vorhang, während sich sein Gesicht mit einer glitzernden Schicht überzog, blass und wunderschön. Wasser tropfte von seinen Wimpern, und ich wollte …
Ich sollte das nicht wollen. Regen . Ich konzentrierte mich auf den anderen Anteil dessen, was ich gerade fühlte.
»Es brennt gar nicht«, flüsterte ich.
Eigentlich fühlte es sich großartig an. Ich hatte mich schon länger nicht mehr gewaschen, und das hier war fast genauso gut. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, dann drehte ich mich langsam im Kreis und bewunderte die zuckenden
Lichter am
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