Die Enklave
«
Bleich strich meine Haare zurück und fuhr dabei mit den Fingern über meine Wange. Die Hitze in seinen Fingerspitzen jagte ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper. Ich neigte den Kopf zur Seite, so dass seine Handfläche meinen Nacken berührte. Er ließ seinen Daumen über die zarte Haut gleiten, und ich begann zu zittern. Als er sich langsam wieder von mir losmachte, hatte ich beinahe vergessen, worüber wir gesprochen hatten.
»Das ist die einzige Verwendung, die sie für Frauen haben. Und es gibt keine Regeln dafür. Du bist vollkommen ungeschützt. «
Eine eisige Kälte erfasste mich. Das war es also, was er damit gemeint hatte, als er sagte, Oben gäbe es andere Gefahren. Eine Frau zu sein bedeutete hier etwas vollkommen anderes. Die Male auf meinen Armen würden niemanden
abschrecken, das konnten höchstens meine Fähigkeiten mit Dolch und Keule.
»Ich glaube, heute kann ich keine weiteren Antworten mehr ertragen«, gestand ich, ohne ihn anzusehen.
»Das Wichtigste weißt du jetzt.«
»Warte. Vielleicht nur noch eine.«
»Dann frag.«
»Wie hast du deinen Namen bekommen?« Das hatte ich mich schon immer gefragt.
Einen Moment lang glaubte ich, er würde nicht antworten, denn nach den Regeln der Enklave war die Frage verboten. Wenn ich nicht dabei gewesen war und keines der Geschenke von mir stammte, musste ich warten, bis er es mir freiwillig erzählte. Aber diese Regeln galten hier nicht mehr.
Bleich wühlte in seinem Beutel und zog ein zerknittertes Stück Papier hervor. Ich nahm es, hielt es in das fahle Licht, das gerade so hell war, dass ich die Umrisse der Buchstaben darauf erkennen konnte. Das Papier war so alt, dass man die meisten davon nicht mehr lesen konnte:
F rb bleich n cht s.
Auf dem zweiten Wort waren noch seine Blutspritzer zu erkennen. Ich befühlte das Papier. Es war seidig und weich, ganz anders als das, das wir in der Enklave herstellten. Es schimmerte in der Dunkelheit. Wäre er nicht bei meinem Namensgebungstag dabei gewesen, hätte ich ihm jetzt meine Karte gezeigt. Aber er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Er wusste, wie ich meinen Namen bekommen hatte. Ich fühlte mich geehrt und gab ihm seinen Talisman zurück.
»Das Papier war auf einer alten Flasche«, sagte er. »Sie war
zu groß, um sie ständig mit mir rumzuschleppen, also hab ich das Papier abgemacht.«
»Weißt du, was es bedeutet?«
Er fuhr mit seinen Daumenkuppen über den Rand des Papiers. Ich sah die dunklen Stellen darauf – er hatte das wohl schon sehr oft gemacht. »Ich glaube, es heißt: Farbe bleicht nicht aus.«
Es klang wie eine wunderbare Botschaft, ein Treueversprechen. Seine Farbe würde nicht ausbleichen und sich auch sonst nicht verändern. Es war ein Name für jemanden, der seine Partnerin nicht im Stich ließ, selbst wenn sie in der Dunkelheit verschwand. Und er würde sie auch nicht alleine nach Oben gehen lassen …
»Das passt zu dir.« Ich schwieg kurz und dachte über meine nächste Frage nach. Vielleicht erinnerte er sich nicht mehr. Vielleicht wollte er es mir aber auch nicht erzählen. »Wie hat dein Zeuger dich genannt?«
»Wie du schon gesagt hast, ich bin jetzt Bleich. Ich will nicht mehr zu den alten Zeiten zurück.«
Ich verstand. Ein toter Mann hatte ihm seinen alten Namen gegeben, und es wäre kein gutes Omen, ihn auszusprechen. Als er seinen Arm um mich legte, wehrte ich mich nicht. Bleich wartete einen Moment lang, als wolle er meine Reaktion sehen, dann legte er sanft seinen Kopf gegen meinen. Trauer umhüllte ihn, Verluste, die ich nicht sehen konnte, von denen ich nichts wusste.
Diese Art von Nähe war neu … und intim. Mit Fingerhut und Stein war das etwas anderes gewesen, nichts von dieser kribbelnden Süße, die jetzt in mir pulsierte. Auch wenn er es nicht aussprach, Bleich schien mich zu brauchen, und als
Antwort schmiegte ich meine Wange an seine. Dann erinnerte ich mich an den Kuss.
Die eigenartige Hitze blieb noch lange in meinem Körper, lange nachdem Bleich sich wieder losgemacht hatte, und verfolgte mich bis in den Schlaf.
SONNE
Als ich aufwachte, dachte ich im ersten Moment, der Raum stünde in Flammen. Ich sprang vom Sofa herunter und fing an zu rennen, bis mein Verstand wieder die Oberhand über meine Instinkte gewann. Kein Rauch hieß kein Feuer. Eine simple Gleichung.
Warum war der Raum dann so hell?
Ich kroch zum Fenster und blickte durch zusammengekniffene Lider hinaus. Draußen glühte alles, und meine Augen brannten. Wenn jemand versucht
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