Die Enklave
ein Vogel. Und ich sah bei weitem nicht so gut, wie es mir lieb gewesen wäre; selbst mit der Sonnenbrille über meinem Gesicht hielt ich das Licht kaum aus. Trotzdem fühlte sich die Wärme auf meiner Haut neu und wunderbar an, aber Bleich schob mich bald wieder nach drinnen.
»Immer nur ganz wenig, Zwei. Du musst dich erst daran gewöhnen, sonst verbrennt es dich.«
Richtig . Er hatte gesagt, die Sonne könnte uns verbrennen. Gefährlich genug sah sie ja aus mit ihrem wilden, orangefarbenen Leuchten. Ich schaute durch das dunkle Glas vor meinen Augen zu ihr hinauf und fragte mich, wie alle Erinnerung an etwas so unglaublich Großes verlorengegangen sein konnte. In der Enklave hatten sie uns nichts von Tag oder Nacht erzählt, nur von glühender Luft und Wasser, das auf der Haut brannte wie Feuer. Irgendwie hatten wir alles durcheinandergebracht. Trauer stieg in mir auf, als ich begriff, dass der Worthüter sein ganzes Leben einer Lüge verschrieben hatte. Was für eine Verschwendung.
Während Bleich die weitere Arbeit übernahm, blieb ich im Lagerraum und beschäftigte mich damit, die Objekte in den staubigen, übereinandergestapelten Papierschachteln zu untersuchen. Ich fand einen Gegenstand aus Metall, der beim ersten Hinsehen nicht viel hermachte, aber je mehr ich damit herumspielte, desto mehr Einzelheiten entdeckte ich: Die Klinge, die darin eingebaut war, erkannte ich sofort, die anderen Werkzeuge jedoch sagten mir nichts. Zwei davon sahen aus, als könnte man mit ihnen gut zustechen, bei den anderen konnte ich nur raten. Aber das Ding war leicht und ließ sich schön klein zusammenklappen, also steckte ich es in meinem Beutel.
Durch die offen stehende Tür sah ich Bleich draußen bei der Arbeit zu. Mit dem Feuerzeug, das sein Vater ihm gegeben hatte, entzündete er die kleineren brennbaren Sachen, von denen sich die Funken ausbreiteten, bis das Feuer hell und lodernd brannte und Rauchschwaden in den Himmel stiegen. In der Enklave hätten wir es niemals so groß werden lassen, aber hier schien es keine Rolle zu spielen. Ich dachte kurz daran, ob nicht jemand den Flammenschein bemerken und neugierig werden könnte … Aber selbst wenn, wir würden schon mit ihm fertigwerden.
Bleich drehte sich um und sah, dass ich ihn beobachtete. »Irgendwas Brauchbares gefunden?«
»Vielleicht.«
Frustriert, dass ich ihm draußen nicht helfen durfte, wühlte ich weiter. Ich fragte mich schon, ob ich hier oben jemals zu etwas gut sein würde, da sah ich auf einem hohen Regal eine verstaubte Metallkiste. Ich holte sie herunter, um einen Blick hineinzuwerfen, und fand ein Loch, das aussah, als
würde dort ein ganz bestimmter Gegenstand hineinpassen, um die Kiste zu entriegeln. Irgendetwas Wichtiges musste da drinnen sein.
Schließlich fand ich auch den Gegenstand, der in die Öffnung passte. Ich steckte ihn hinein und hörte ein Klicken, dann öffnete ich den Deckel und fand den größten Schatz meines Lebens: ein Buch. Nicht den Teil eines Buches, keine losen Seiten, sondern ein ganzes, vollständiges Buch. Es war auch nicht zerfleddert wie die, die man Unten in den Tunneln fand. Ich traute mich kaum, es zu berühren.
Die Buchstaben auf der beigefarbenen Vorderseite waren erhöht und umrahmt von einem fantasievollen Muster, in dem ich ein Mädchen entdeckte, das seltsame Kleider trug, einen Balg mit Flügeln und einen Vogel. Mit einiger Mühe entzifferte ich die Buchstaben: » Tagjunge und Nachtmädchen. Märchen von George MacDonald.« Die meisten der Worte kannte ich, aber nicht alle. Ich war wie verzaubert. Keuchend schlug ich das Buch auf und hörte ein leises Plopp , als wäre es seit Ewigkeiten nicht mehr angerührt worden, was wohl auch der Wahrheit entsprach. Mit dem Finger fuhr ich die Zeilen entlang und setzte die Buchstaben zusammen. Weitere Worte sprangen mir entgegen: »London: Arthur C. Fifield, 1904. Hrsg.: Greville MacDonald; Druck: S. Clarke, Manchester.«
Mit größter Vorsicht blätterte ich um, und mein Herz blieb stehen: Jemand hatte etwas in das Buch hineingeschrieben . Der Worthüter würde explodieren vor Wut. Ich las die verblasste Tinte: »Für Gracie, von Mary, in Liebe«. Das mussten Namen sein, was bedeutete, dass das Buch ein Geschenk gewesen war. Also hatten auch andere Hände als die
meinen es schon berührt; es hatte Menschen gehört, die in der verlorenen Welt gelebt hatten, die Träume gehabt hatten wie ich, und doch würde ich niemals erfahren, wie ihr Leben ausgesehen hatte. Ein
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