Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
Vom Netzwerk:
mehr. Doch mich brauchte er anscheinend. Stumm genoss ich dieses Gefühl.
    Die Nacht draußen war kalt. Mein Atem löste sich in kleinen Dampfwolken von meinen Lippen, und ich machte
mindestens fünf davon, um sicherzugehen, dass sich meine Augen nicht täuschten. An dem Kragen meines Pullovers war ein zusätzliches Stück Stoff befestigt, das zu meiner großen Freude genau über meinen Kopf passte. Tegan trug die gleichen Kleider wie ich, nur in einer anderen Farbe, und als sie sah, was ich mit dem Stück Stoff an meinem Pullover gemacht hatte, tat sie mit ihrem das Gleiche.
    Bleich führte uns zurück zum Wasser. Ich hörte und roch es, noch bevor ich es sah. Doch anstatt bis zu seinem Rand zu gehen, bog er ab und folgte einem schmalen Kanal, der zurück in Richtung Stadt führte.
    Als er das Erstaunen auf meinem Gesicht sah, sagte er: »Wenn wir diesem Fluss folgen, kommen wir fast bis an unser Ziel.«
    Noch ein neues Wort. Fluss . Ich behielt es in meinem Gedächtnis. »Hast du dir gemerkt, wo die Bibliothek ist?«
    »Wenn ihr bereit seid, können wir los und sie suchen.«
    »Und vielleicht ein paar Antworten finden«, ergänzte Tegan.
    Gemeinsam machten wir uns an den nächsten Abschnitt unserer Reise.

ERKENNTNIS
    Der Fluss machte viele Biegungen. Wir folgten jeder einzelnen und waren die halbe Nacht unterwegs. In diesem Teil der Ruinen war es ruhiger, ein Ort für die Geister der Toten, die mit dem Wind flüsternd über meine Haut strichen. Ich staunte über die unermessliche Größe der Gebäude, an denen wir vorbeikamen, und fragte mich, für was sie wohl gut gewesen sein mochten.
    Mir gefiel das sanfte Licht, das von dem Ding ausging, das Bleich »Mond« nannte. Es war gewachsen seit unserer ersten Nacht an der Oberfläche.
    »Wird es noch größer?«, fragte ich.
    Mit einem leisen Lächeln folgte Bleich meinem Blick. »Ja. Er wird kreisrund. Manchmal ist er silbrig, und manchmal leuchtet er fast orangefarben. Ab und zu ist er auch golden, aber nie so hell wie die Sonne.«
    Ich mochte die Sonne nicht. Tegan und Bleich schien sie nichts auszumachen, aber ich hasste das Ding. Ich hatte das Gefühl, wenn sie die Chance bekäme, würde sie mich verbrennen. Am liebsten hätte ich mich versteckt, wenn sie den Himmel mit ihrem Feuer übergoss, damit ich nicht wie ein auf Kupfers Bratspieß schmorendes Stück Fleisch endete. Um die anderen nicht glauben zu lassen, ich
wäre schwach, verbarg ich meine Angst jedoch, so gut es ging.
    Wir waren umgeben von hohen, verlassenen Gebäuden, deren Wände von Grünzeug bedeckt waren, das an ihnen entlang nach oben und bis hinein ins Innere wuchs. Ganze Teile von ihnen waren eingestürzt, und weil niemand sie reparierte, konnte man in manche hineinsehen, und mir kam die verlockende Idee, an ihnen wie an dem Skelett eines riesigen toten Tieres hinaufzuklettern. Vorsichtig ging ich weiter und achtete darauf, wohin ich meine Füße setzte, wich großen Löchern und scharfkantigen Felsbrocken aus. Das Grünzeug wuchs hier schon so lange ungehindert, dass es fast das ganze Gebiet zurückerobert hatte: Ich sah riesig hohe Pflanzen, die Bleich »Bäume« nannte, und lange dünne, die sich im Wind bewegten, als würde eine unsichtbare Hand darüberstreichen. Bleich nannte sie »Gras«.
    Schließlich erreichten wir einen riesigen Bau aus grauen Steinen. Auch er war von Grün überwuchert; ein Netz aus Blättern kroch an den Seiten hinauf. Unzählige rissige Stufen führten zu den offen stehenden Eingangstüren, die von zwei großen Steinungeheuern bewacht wurden. Wir blieben stehen, und ich beäugte sie misstrauisch. Auch die anderen starrten auf den Eingang. Im Gegensatz zu den restlichen Gebäuden strahlte dieses hier, selbst in seinem schlechten Zustand, etwas Erhabenes aus. Ich spürte, dass sich hier große Dinge ereignet hatten.
    »Und das ganze Ding ist voll mit Büchern?«, fragte Tegan.
    »Das hat mein Dad zumindest gesagt.«

    Tegan senkte den Blick und schaute auf ihre Füße. »Meine Mutter hat nie viel zu mir gesagt außer: ›Sei still, sie kommen! ‹, oder: ›Wir müssen rennen!‹«
    »Wie war sie?«
    »Meine Mutter?« Ich nickte, und Tegan schien in Gedanken zu versinken. »Sie sah aus wie ich, aber sie hatte immer Angst. Ich glaube, ich hab sie nie anders gesehen als voller Angst.«
    Wenn ich einen Balg hätte, den ich beschützen müsste, hätte ich auch Angst …
    Bleich lief die Stufen hinauf, als wollte er den Erinnerungen entfliehen, die Tegans Worte in ihm

Weitere Kostenlose Bücher