Die Enklave
Vater hat es hier gut eingerichtet für dich.«
Seiner offensichtlich nicht, sonst wäre ich ihm nie begegnet. Und mit einem Mal wollte ich mehr über ihn wissen, mehr als Pearl oder irgendjemand anderer jemals erfahren würde. Aber dies war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Ich hatte meine Chance gehabt, ihm Fragen zu stellen, und trotzdem wusste ich immer noch nicht so viel über ihn, wie ich mir eigentlich wünschte.
»Ja«, erwiderte Pearl. »Ich hab Glück gehabt. Mein Ururgroßvater hat vor langer Zeit hier unten diesen Bunker gebaut. Aus Angst, die Welt könnte in die Luft fliegen oder so.«
Das Wort »Bunker« kannte ich nicht, aber ich fragte auch nicht nach. Vielleicht hätte ich Bleich gefragt, wenn wir allein gewesen wären, aber auf unerklärliche Weise hatte ich das Gefühl, dass ich vor Pearl keine Schwäche zeigen durfte, als könnte sie dann auf mich losgehen wie ein Freak im Blutrausch. Auch Tegan musterte sie vorsichtig, wenn auch aus anderen Gründen, wie ich glaubte. Sie vertraute Menschen ganz einfach nicht, und wahrscheinlich hätte sie auch uns nicht vertraut, wenn wir nicht Seite an Seite gekämpft hätten. Auf diese Weise schloss man weit schneller Freundschaft.
»Ich hatte gehofft, du könntest uns helfen«, sagte Bleich.
Pearl lächelte. »Stepans Sohn … jederzeit.«
Durch ihre Antwort ermutigt und offensichtlich auch geschmeichelt, fuhr er fort: »Wir brauchen einen Platz zum Schlafen, und danach würden wir uns gern die alten Karten deines Vaters ansehen, wenn das in Ordnung ist.«
»Ich hab sie in einer Kiste. Hier ist nicht viel Platz, fürchte ich, aber du kannst in meinem Bett schlafen und die beiden hier auf dem Boden.« An uns gewandt fügte sie hinzu: »Habt ihr Decken?« Ihre Freundlichkeit war aufgesetzt; sie schmeckte wie fauliges Fleisch.
Sie wollte nicht, dass wir in ihrem Heim schliefen. Bleich schien es nicht zu merken. Er folgte ihr in den nächsten Raum, wo sie leise miteinander sprachen. Sie erzählte ihm, wie einsam sie gewesen war. Dann schwiegen sie, und ich wusste, dass sie sich umarmten und sich gemeinsam an ihre Kindheit erinnerten.
Da Tegan keine eigene Decke hatte, würden wir meine teilen müssen, was bedeutete, dass wir uns eng aneinanderschmiegen mussten. Es machte mir nichts aus. Es würde mich daran erinnern, wie es im Schlafraum für Bälger gewesen war, und mein Heimweh ein bisschen lindern.
»Ich mag sie nicht«, flüsterte Tegan. »Warum sind wir überhaupt hier?«
Ich erklärte ihr, was eine Bibliothek war und warum wir dorthin wollten. Tegan hörte zu und runzelte die Stirn. Als ich zu Ende gesprochen hatte, fragte sie: »Spielt es denn eine Rolle, warum das alles passiert ist? Ich dachte, ihr wolltet nach Norden gehen, weg von hier. Das ist es zumindest, was ich will – nur weg von diesem Ort.«
»Das werden wir auch«, erwiderte ich. »Aber zuerst wollen wir noch ein paar Dinge herausfinden. Ich glaube, wenn wir
wissen, was geschehen ist, können wir uns besser auf das vorbereiten, was uns dort draußen erwartet.«
»Ja, das klingt sinnvoll«, erwiderte Tegan.
Ich legte mich auf den Boden und starrte an die graue Decke. »Ich weiß nichts über diese Welt. Nur das, was Bleich mir erzählt hat, und manchmal scheint er auch nicht ganz sicher, weil er so viele Jahre Unten gelebt hat.«
»Vielleicht kann ich dir ein paar Fragen beantworten«, sagte Tegan.
Ich dachte über ihre Worte nach und beschloss, ihr Angebot anzunehmen. »Deine Mom war nicht bei einer Gang?«
»Nein. Sie und mein Dad gehörten zu einer kleinen Gruppe, die es geschafft hatte, sich versteckt zu halten. Am Anfang waren wir noch mehrere, aber dann wurden viele krank. Mein Dad starb als Erster, meine Mutter als Letzte. Dann war nur noch ich übrig.«
Bleich hat gesagt, sein Dad sei auch krank geworden. Eine Gemeinsamkeit?
»Vor langer Zeit gab es in der Enklave auch eine Krankheit. Die Ältesten haben uns erzählt, dass fast alle daran gestorben sind. Glaubst du, es war dieselbe Krankheit?«
Tegan zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
»Weißt du, warum du sie nicht bekommen hast?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Als ich dann bei den Wölfen gelandet bin, hab ich mich gefragt, warum ich nicht auch gestorben bin.«
Das überraschte mich. In der Enklave hatte ich mich nie gefragt, warum manche Bälger überlebten und andere starben. Es schien keine Regeln dafür zu geben. Manche, die klein und schwach waren wie Zwirn, überlebten und
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