Die Enklave
länger suchen«, erwiderte Bleich.
»In Ordnung«, sagte ich, setzte mich aber hin. Ich hatte die Nase voll davon, auf der Suche nach Antworten die vergilbten Blätter zu befingern und tote Buchstaben zu enträtseln. Auf dem Tisch neben mir sah ich ein Buch, das hauptsächlich aus Bildern bestand. Wahrscheinlich war es für Kinder gedacht.
Aus einer Laune heraus schlug ich es auf. A wie in Apfel. B wie in Bär. C wie in Chor. Fasziniert blätterte ich weiter, lernte auf jeder Seite neue Wörter, Gegenstände und Tiere kennen. Das Buch war robuster gemacht als die anderen, und die Seiten waren besser erhalten. Sie fühlten sich immer noch steif an. Bei »W« verschlug es mir den Atem.
»Tegan!«, rief ich. »Sieh dir das an!«
Seufzend stand sie auf. Ich glaube, sie wollte auch gerne aufbrechen, aber wir ließen Bleich seinen Willen, weil wir beide lieber in der Dunkelheit marschierten.
»W wie in Wolf«, las ich vor und deutete mit einem Finger auf das Bild. »Hast du so einen mal gesehen?«
»Keinen echten. Nur die Ganger.«
»Aber du weißt, was das für Tiere waren?« Ich war enttäuscht und jetzt auch noch beschämt. Anscheinend war ich hier die Einzige, die keine Ahnung von irgendwas hatte. In der Enklave hatten sie uns nicht viel von Oben erzählt, und das meiste davon war auch noch falsch gewesen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Tegan wiederum keine Ahnung von Freaks und Tunnelbewohnern hatte, und sie wusste auch nicht, was meine Narben bedeuteten. Dummerweise nützte mir dieses Wissen hier jedoch nichts.
»Meine Mom hatte genau das gleiche Buch. Mit so einem hat sie mir Lesen beigebracht.« Ihre Stimme klang seltsam, erstickt.
Das Buch ihrer Mom konnte die Jahre von Tegans Gefangenschaft unmöglich überlebt haben, also hielt ich ihr das aus der Bibliothek hin. »Willst du es haben?«
Tegans Augen leuchteten, und Tränen begannen darin zu schimmern. »Danke!«
Sie nahm das Buch und drückte es an ihre Brust, bevor sie es in ihren Beutel steckte. Ich blätterte noch ein paar andere Bücher durch, dann verlor ich endgültig die Geduld und machte mich auf die Suche nach Bleich. Ich fand ihn auf dem Boden sitzend, umgeben von Büchern – riesigen, alten mit winzig kleinen Buchstaben. Allein bei dem Gedanken daran, sie lesen zu müssen, tat mir der Kopf weh.
»Was herausgefunden?«
»Ja, aber nicht über das, was ich wollte.«
»Und das wäre gewesen?«
»Über früher.«
Ich seufzte. »Brauchst du noch lange? Es ist fast dunkel. Ich glaube, wir sollten hier bald verschwinden.«
Noch bevor er antworten konnte, hallte ein langgezogenes Heulen durch die Bibliothek. Ich erkannte das Geräusch sofort, und es ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Bleich blickte mich mit seinen dunklen Augen an. »Wo ist Tegan?«
BÜCHEREI
»Kommt raus, kommt raus, wo auch immer ihr seid!«, rief Pirscher. »Komm schon, Simeon . Ich hab hier jemanden, der dafür sterben würde, dich zu sehen.«
Bleich schloss die Augen. »Er hat Pearl.«
Mir war Pearl egal, aber Bleich nicht, wie ich sehen konnte. »Wahrscheinlich hat er jetzt auch die restlichen Wölfe dabei.«
Nun hatte auch ich ein Bild für sie im Kopf: wild und mit langen Zähnen, silbergraues Fell und leuchtende Augen. Pirschers Menschen-Wölfe konnten kaum so aussehen, aber wenn sie ähnlich gefährlich waren, stand uns ein fürchterlicher Kampf bevor, der wegen Tegan und Pearl nur noch schwieriger werden würde. Bleich wollte seine Freundin aus früheren Zeiten retten, um seines Vaters willen. Mit ihrem Tod würde ich mich abfinden, wenn es keine andere Möglichkeit gab. Aber nicht mit Tegans. Wir hatten sie gerettet, und Pirscher sollte sie nicht zurückbekommen.
Die Dunkelheit half uns. Ich schlich mich an der Mauer entlang, bis ich sehen konnte, womit wir es zu tun hatten. Bleich blieb dicht hinter mir, und seine Gegenwart gab mir Sicherheit. Zu meiner Überraschung hatte Pirscher nicht eine ganze Armee mitgebracht, sondern nur ein paar Wölfe,
die genauso furchterregend aussahen wie er selbst. Auf ihren Gesichtern bemerkte ich die gleichen Narben, nur in anderen Farben bemalt. Pirschers Rot bedeutete wahrscheinlich, dass er der Anführer war und die anderen gut daran täten, das nicht zu vergessen.
Sie standen direkt vor den aufgebrochenen Türen. Wie ich befürchtet hatte, hielt Pirscher Tegan fest, ein Messer lässig an ihre Kehle gesetzt. Einer seiner Wölfe hatte Pearl. Sie waren stark, gut bewaffnet und ausgeruht. Was alles
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