Die Enklave
Händen zu Staub.
Als wir weitergingen, entdeckten wir hinter einer verschlossenen Tür einen gigantisch großen Raum voller Tische. Auf einigen davon lagen Bücher aufgestapelt, auf anderen vergilbtes Papier, und das Sonnenlicht machte den Raum so hell, dass wir endlich anfangen konnten zu lesen.
Ich nahm ein Bündel gelbes Papier in die Hand. Auf den Seiten waren neben den Buchstaben auch Bilder zu sehen, aber sowohl Bilder als auch Buchstaben waren eher traurig. Ich sah eine weinende Frau und Feuer, das in einem Auto brannte. Bisher hatte ich sie nur als stillstehende, verrostete Wracks gesehen, und dieses hier schien genau in dem Moment kaputtgegangen zu sein, als es mit einem anderen zusammenstieß. Aus beiden loderten Flammen.
»CDC: Impfung ein Fehlschlag«, las ich langsam. Die meisten der Worte kannte ich nicht, aber ich sprach sie aus, so gut ich konnte.
»Hast du was gefunden?«, fragte Bleich und stellte sich neben mich.
Er legte mir eine Hand auf die Schulter, während er sich über das Papier beugte. Bei Stein wäre das eine vollkommen natürliche Geste gewesen, aber bei Bleich bedeutete sie etwas anderes. Sie war kein Zeichen, um mir zu sagen, dass er da war, keine einfache Berührung, sie war auch nicht als Trost gedacht, das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers.
»Weiß nicht genau.« Ich gab ihm das Papier.
Es war keine Schande für mich, zuzugeben, dass er besser lesen konnte als ich. Ich kannte alle Buchstaben und würde nie in Gefahr geraten, weil ich ein Warnschild nicht lesen konnte, und das war alles, was ich brauchte. Bleich schaute die Worte an, ohne dabei mit dem Finger auf das zu zeigen, was er gerade las, so wie ich es tat.
»Ich verstehe nicht alles«, sagte er schließlich, »aber es scheint, dass die Krankheit, an der mein Dad und Tegans Mom gestorben sind, eine Menge Leute umgebracht hat. Also haben sie versucht, eine Medizin dagegen herzustellen, aber es hat nicht funktioniert, und alles wurde nur noch schlimmer.«
Schlimmer. So wie jetzt? Oder war das Leben für die Menschen seitdem schon wieder besser geworden? Kaum vorstellbar.
»Sind wir also die Einzigen, die überlebt haben?«, fragte Tegan flüsternd. »Die in den Tunneln, die Ganger und die paar anderen wie meine Mom und ich?«
Bleich schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Mein Dad hat gesagt, dass viele nach Norden gegangen sind. Dass es dort besser ist.«
Ich spürte einen Stich, als mir der Gedanke kam, ob das nicht auch nur Geschichten waren wie die, die Bleich uns vorlas: Versprechungen, die nie in Erfüllung gehen würden. Aber ich wusste, dass die Frage ihn verletzen würde, also stellte ich sie nicht. Bleich verzog seine kantige Stirn zu einem Runzeln; vielleicht hatte er die Frage in meinen Augen gesehen.
Tegan kam mit einem weiteren Papierbündel zu uns herüber. »Was bedeutet Evakuierung ?«
Ich zuckte nur die Achseln, während Bleich das Bündel nahm und die Worte überflog. Vielleicht konnte er es herausfinden, wenn er auch die restlichen Seiten las. Nicht zum ersten Mal bewunderte ich neben seiner Kampfkraft auch seine Klugheit.
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand er schließlich, »aber ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass Leute weggegangen sind. ›In den Plänen zur Evakuierung werden die Reichen und Mächtigen wieder einmal bevorzugt, und wir werden das Gleiche erleben wie bei Katrina‹«, las er laut vor.
»Die Mächtigen, so wie die Ältesten«, murmelte ich. »Das heißt also, was immer auch passiert ist, die wichtigen Leute sind als Erste weggegangen.«
»Und andere wurden zurückgelassen«, sagte Tegan. »Deshalb sind wir hier.«
Ein ernüchternder Gedanke. Wir waren die Nachkommen von Menschen, die nicht wichtig genug gewesen waren, um bei der Evakuierung dabei zu sein. Ich wusste zwar immer noch nicht genau, was das Wort bedeutete, aber ich war mir ziemlich sicher, dass das Gegenteil davon zurückgelassen war.
»Wir können für alle Ewigkeit hierbleiben und werden nicht mehr herausfinden als das«, sagte ich schließlich.
Ich war enttäuscht, dass wir die Antworten auf all unsere Fragen nicht in einem einzigen Buch vorfanden, das, schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen, auf uns wartete. Aber dann merkte ich, dass meine Erwartungen wohl zu hoch gewesen waren. Ein Ort wie dieser konnte uns nicht sagen, wohin wir gehen sollten oder was jenseits der Ruinen auf uns wartete. Wir würden es selbst herausfinden müssen …
»Ich würde gern noch ein bisschen
Weitere Kostenlose Bücher