Die Enklave
vielen Stunden, die ich und Pirscher mit dem Buchstaben-Buch geübt hatten, wusste ich, dass »H« für Hase stand. Dem Bild in dem Buch nach zu urteilen, könnten unsere Schlingen sogar einigermaßen geeignet sein, solche Tiere zu fangen. Ich nickte. »Sollen wir unterwegs ein wenig jagen?«
»Ja. Wir treffen uns hier wieder, wenn wir fertig sind. Komm, Tegan.« Sie warf mir einen verwirrten Blick zu, während Bleich schon auf die Bäume zulief.
In letzter Zeit hatte er das immer öfter so gemacht: lieber Zeit mit ihr verbracht als mit mir. Zuerst hatte ich noch geglaubt, er wollte sie nicht mit Pirscher allein lassen, aber
unsere Gruppe war jetzt schon eine ganze Weile zusammen, und wenn sie sich immer noch vor ihm fürchtete, war ihr nicht zu helfen.
»Los, holen wir uns ein bisschen Fleisch für den Kochtopf, Taube.« Pirscher bog in die entgegengesetzte Richtung ab – er ging zwar auf die Bäume zu, aber weg von den anderen beiden.
Eine herrliche Kühle legte sich über meine Haut, als wir in die grünen Schatten traten. Alle Geräusche waren leiser, als würden die Bäume sie genauso dämpfen wie das Sonnenlicht. Nur meine Schritte konnte ich deutlich hören, und das, obwohl ich immer so stolz auf meine Fähigkeiten als Jägerin gewesen war. Aber vielleicht funktionierte das nur in den Tunneln. Hier oben trat ich knackend auf jeden Ast, der auf dem Boden lag.
Unterwegs legte Pirscher die Schlingen aus, die wir aus allem Möglichen zusammengebastelt hatten, was wir in dem Haus fanden, dann zog er mich beiseite, weil die Hasen nicht kommen würden, solange sie uns in der Nähe riechen konnten. Eine angenehme Art zu jagen, fast wie in den Tunneln, nur dass wir dort nicht auf Hasen Jagd gemacht hatten.
Als er der Meinung war, wir hätten uns weit genug entfernt, hob er die Hand. Stumm blieb ich stehen und wartete auf eine Erklärung, warum ich mich immer noch so ruhig verhalten sollte. Da trat Pirscher auf mich zu, kam viel zu nah, schob mich gegen einen Baum und presste seinen Mund auf meinen. Er machte es ganz anders als Bleich. Seine Lippen bewegten sich mehr, und er schob seine Zunge dabei vor. Ich wusste nicht, ob mir gefiel, was er da machte, und ich schob ihn weg.
»Ich dachte, du willst es auch.«
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast mir Lesen beigebracht. Wir haben so oft miteinander trainiert. Ich hab geglaubt, du wüsstest, dass das nur eine Ausrede war, um in deiner Nähe zu sein.«
Ich dachte an die unzähligen Male, die er hinter mir gestanden hatte, seinen Kopf dicht neben meinem und seine Hände auf meinem Körper, während er mich in die richtige Position brachte, und begriff. Aber für mich war es einfach nur Training gewesen, ohne tiefergehende Bedeutung. Wenn ich an Pirscher dachte, bewunderte ich seine Schnelligkeit mit den Messern, die Ausstrahlung seiner Narben, aber darüber hinaus … ich wusste nicht, was da sonst noch hätte sein sollen, hatte nicht einmal einen einzigen Gedanken daran verschwendet. Er war ein Freund, wie Tegan, aber nicht wie Bleich. Niemand würde jemals sein wie Bleich. Das zumindest wusste ich.
»Warum ich? Warum nicht Tegan?«
»Ich glaube, Bleich will sie«, sagte er mit einem Achselzucken.
Die Worte trafen mich. War das der Grund, warum er so viel Zeit mit ihr verbrachte? Er wollte sie nicht nur vor Pirscher beschützen. Vielleicht war da mehr.
Pirscher sprach weiter: »Und selbst wenn er sie nicht will … sie taugt nur zum Fortpflanzen. Mehr hat sie nicht zu bieten. Aber du, du bist wie ich.«
Ich wusste nicht, ob das stimmte oder ob ich überhaupt wollte, dass es so war. »Du meinst eine Jägerin?«
»Ja. Du bist stark.«
Zumindest behaupteten das meine Narben. Sechs davon
hatte ich von meinem Namensgebungstag, die restlichen von echten Kämpfen, wie es sich für eine echte Jägerin gehörte. Und eines Tages würde ich vielleicht sogar wieder Menschen beschützen können – falls dieser Marsch jemals endete.
Zögernd streckte ich die Hand aus und berührte die Narben auf Pirschers Gesicht. Sie hatten mich schon immer neugierig gemacht, schon seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. So wie sich die Haut dort anfühlte, hatten sie sie nicht mit einer heißen Klinge verschlossen, sondern seinen Körper vor die Aufgabe gestellt, sich selbst zu heilen. In gewisser Weise war das auch eine Form von Stärke.
»Stört dich das?«
Pirscher schloss die Augen. »Noch nie habe ich jemanden tun lassen, was du da gerade tust.«
»Warum nicht?«
»Es
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