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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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müssen. Damals ging das Gerücht um, Lammers habe Wehrs angezeigt. Lammers war gerade in die NSDAP eingetreten. Das war alles. Niemand konnte einen konkreten Grund für das Gerücht nennen. Und doch hielt sich das Gerücht. In der Straße sagten sie: Lammers wars. Lammers wurde nicht mehr oder nur noch flüchtig gegrüßt. Betrat er ein Geschäft, verstummten die Gespräche, oder man unterhielt sich betont laut über diesen ewigen Regen, die Sonne oder den Wind. Lammers erzählte überall ungefragt, er habe Wehrs nicht angezeigt. Die Leute wandten sich ab. Fast weinerlich betonte er, so was könne er gar nicht tun. Aber dann, nach einem halben Jahr, als ihn immer noch dieses Schweigen umgab, begann er plötzlich die Leute, die in seiner Nähe im Treppenhaus, in der Schlachterei, in der Gastwirtschaft schwiegen, zu fragen, was sie denn so dächten. Keineswegs versteckt, sondern direkt. Finden Sie es richtig, daß die Synagogen angesteckt wurden? Würden Sie bei Juden kaufen? Einen Kommunisten verstecken? Die Leute antworteten mit Ausflüchten, aber er blieb hartnäckig, ließ sich nicht ablenken, und so gaben sie Antworten, zögerliche Zustimmungen, gewundene, und man sah, wie die anderen logen, und hörte sich selbst lügen. So wurde Lammers wieder gegrüßt, erst langsam und knapp, dann, Polen war von der Wehrmacht überrannt worden, freundlich, Norwegen und Dänemark erobert, betont freundlich, und, als Frankreich kapitulierte, fast enthusiastisch. Einige, die nicht grüßten, die zögerlich antworteten, wurden zur Gestapo vorgeladen, da wurde gefragt, woher sie den Schnaps hatten bei der letzten Feier. 1942, als das jüdische Levy-Stift am Großneumarkt geräumt wurde, grüßte man ihn mit erhobenem Arm, rief Heil Hitler, Herr Lammers, sogar über die Straße hinweg.
    Lammers wurde Blockwart, Lammers organisierte Kinderlandverschickungen, Winterhilfswerk, später den Luftschutz. Er war zwei Jahre früher in Pension gegangen wegen seines zerschossenen Fußes, ganz unnötig, denn es ging ihm gut, sichtlich gut, genaugenommen ging es ihm immer besser. Kein Wunder, denn in der Schlachterei wurde die Wurst so ausgewogen, daß die Verkäuferin sagen konnte, kann es etwas mehr sein, was sie, da die Wurst nur auf Marken zugeteilt wurde, gar nicht sagen durfte. Der Bäcker hatte für Lammers noch Brötchen, als es längst keine mehr gab. Nur Lena Brücker, der man einen Schleswig-Holsteiner Dickkopf nachsagte, grüßte immer: Guten Tag, Herr Lammers. Und jedesmal sagte Lammers: Heil Hitler ist der deutsche Gruß, Frau Brücker. Gut, Herr Lammers, Heil Hitler. Eines Tages wurde sie zur Gestapo bestellt, dort aber befragte man sie über Holzinger, und mit dem hatte Lammers nichts zu tun.
    Vielleicht hättest du ihm Kutteln anbieten sollen, sagte Bremer, der hat das Essen durch die Türen gerochen.
    Nee, sagte Lena Brücker, der setzt seine Füße nicht unter meinen Tisch. Er wird mißtrauisch geworden sein, weil ich nicht im Keller war, gestern, beim Luftschutzalarm. Ich bin sonst immer runtergegangen. Man denkt an die Kinder. Hoffentlich gehts dem Jungen gut. Und die Edith, was die wohl macht. Wir müssen besonders vorsichtig sein. Beweg dich wenig. Vor allem, wenn es an der Tür klingelt, schließ dich in die Kammer ein.
     
    Er konnte nicht einschlafen. Sie lag, wie immer, auf dem Bauch, auf ihren Brüsten wie auf kleinen Kissen und schlief. Vorsichtig schob er seine Hand auf ihren Hüftspeck. So lag er still, sah hin und wieder auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr und wartete, daß endlich, endlich Tag werde.

3
     
     
    Lena Brücker telefonierte in der Kantine nach Frühkarotten, um den Organisatoren der Lebensmittelverteilung den Vitaminbedarf zu sichern, während im Radio von letzten und allerletzten, zugleich immer entscheidenderen Absatz-, Rückzugs- und Umgruppierungsgefechten der deutschen Truppen berichtet wurde, da war Bremer eben aufgestanden, hatte sich den Marinestutzer umgehängt und blickte aus dem Fenster hinunter in die Brüderstraße. Wie gestern kamen und gingen Frauen mit Wassereimern, mal schnell, mal langsam, er sah es am Gang, an der schiefen Schulter, dem vorsichtigen Auftreten, ob die Eimer voll oder leer waren. Aber der Hydrant, von dem sie das Wasser holten, war nicht im Blick. Die Sonne schien, und dennoch sahen die Menschen dort unten grau und trübe aus. Die Frauen trugen noch die dunklen Wintermäntel, die Haare hatten sie unter Kopftüchern verborgen. Ein alter Mann zog einen kleinen

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