Die Entdeckung der Currywurst
läßt, der Rock ist etwas hochgerutscht, deutlich ist der Strumpfansatz zu sehen.
Lena Brücker mit einem Säugling auf dem Arm, den Kopf stützt sie ab, die Ärmel des Kittelkleides hat sie aufgekrempelt. Er dachte an seinen Sohn, den er nur zwanzig Tage gesehen hatte, ein Kind, das, als er es streicheln wollte, zu schreien begann. Und wenn er ehrlich war, hatte dieses Kind, das viel Zeit für sich beanspruchte, seinen Urlaub gestört. Nicht, daß er das Kind gehaßt hätte, aber er spürte, was er sich zunächst nicht gleich eingestehen mochte, einen ungeduldigen Ärger, weil seine Frau sich immer wieder mit diesem Kind abgeben mußte, weil es gewindelt, gewaschen, gecremt oder einfach auf den Arm genommen werden mußte. Es schrie nachts, immer wieder, bis sie es zu sich ins Bett nahm, das heißt, sie legte es zwischen sich und ihn. Wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, eifersüchtig auf dieses Kind zu sein. Bremer blätterte weiter und fand ihn, der ihr Mann sein mußte: Ein hochgewachsener, schlanker Mann steht da, im Anzug, raucht, die Hand, die linke, lässig in der Taille abgestützt, wie ein Filmschauspieler. Bremer legte das Album aus der Hand, während ich später noch weiter darin herumblätterte, die Kinder von Frau Brücker betrachtete, der Junge in HJ-Uniform, zuletzt in der Uniform eines Flakhelfers. Dann die nicht mehr eingeklebten Fotos, die Bremer damals noch nicht sehen konnte, die Tochter mit dem Enkel, der Sohn als Schornsteinfeger vor seinem VW. Das sind Bilder aus den fünfziger und sechziger Jahren. Frau Brücker, im Laufe der Jahre, mal der Rock länger, mal kürzer, die Schuhe mal blockhaft, mal stilettartig, dann plötzlich diese indifferenten Kaufhauskleider der sechziger Jahre, kein Ausschnitt, keine betonte Taille, obwohl sie eine gute Figur hatte, spraybetonierte Locken, wobei in dem hellen Blond das Grau nur für den zu erkennen ist, der es, wie ich am Imbißstand, in Natur gesehen hatte. Sie sieht nicht wie fünfzig, eher wie vierzig aus, und doch ist aus dem Gesicht etwas verschwunden, etwas Genußfähiges, die Unterlippe, diese sinnlich vorgeschobene Unterlippe ist schmaler geworden, zeigt kleine Falten.
Bremer wühlte weiter: Versicherungspolicen, Strom- und Gasabrechnungen, ein Bündel Briefe, mit einer blauroten Kordel zusammengeschnürt. Der Name des Absenders: Klaus Meyer. Einen Moment zögerte er, dann knüpfte er das Bündel auf und las den zuoberst liegenden Brief:
»Liebes, ich sitze in meinem Zimmer im Gasthof ›Zur Sonne‹, und von unten, aus der Gaststube, höre ich die Skatrunde. Ich wünschte, du wärest jetzt hier. Wir hätten zusammen gegessen, Scholle, gebraten und fangfrisch aus der Elbe, hätten von dem roten spanischen Wein getrunken, der über Glückstadt geliefert wird, und wären hier heraufgekommen. Der Wind drückt gegen die Fenster, und von der Elbe kommen wie das Stöhnen und Ächzen der Erde die Geräusche eines Eimerbaggers.
Morgens habe ich im hiesigen Kurzwarenladen zwei Packungen Marineknöpfe verkauft und ein Dutzend Perlmuttknöpfe, das war alles. Aber danach bin ich zu dem alten Bootsbauer Junge gegangen. Er konnte mir tatsächlich den Klüverrackring aufzeichnen. Und weil er auch nicht sagen konnte, wie es geschrieben wird, schreibe ich rack mit ck. Ich denke, es kommt dem Haken näher, der ja daran befestigt wurde, als ein g ...«
Sonderbar, dachte Bremer und steckte den Brief zurück, zögerte, ob er einen anderen Brief lesen sollte, band dann aber wieder die Kordel um die Briefe und sagte sich, daß er so einen Brief nicht schreiben könne. Wie das Stöhnen und Ächzen der Erde. Tatsächlich wurde die Erde beim Baggern ja aufgerissen. Wer war dieser Klaus Meyer? Er würde sie nicht fragen können. Bremer ging ins Schlafzimmer. Im rechten Seitenteil des Schlafzimmerschranks lagen in den Fächern säuberlich gestapelt Herrenoberhemden, daneben hingen drei Anzüge, ein dunkelblauer, ein hellgrauer, ein brauner. Er zog den hellgrauen Anzug an und stellte sich vor den Spiegel im Schlafzimmer. Der Anzug war etwas weit. Der ihn daraus ansah, war ein Fremder, nach all den Jahren in der blauen Marineuniform ein helles Grau. Dieser Barkassenführer verstand sich zu kleiden. Das Erstaunliche war die Qualität des Tuchs. Barkassenführer verdienen doch nicht so viel Geld, dachte er. Der Anzug roch nach Lavendel. In jeder Tasche fand er ein kleines Stoffsäckchen Lavendel. Also erwartete sie immer noch ihren Mann. Käme der zur Tür
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