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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Blockwagen hinter sich her, darauf lagen ein paar angekohlte Bretter, und auf den Brettern saß ein Huhn.
    Bremer setzte sich an den Küchentisch, trank etwas von dem Eichelkaffee, den Lena Brücker ihm warmgestellt hatte. Der Kaffee zog ihm den Mund zusammen. Es war nur noch eine Ahnung von Bohnenkaffee darin. Zwei Scheiben Brot hatte sie ihm hingestellt, etwas Margarine, aber sie hatte sie geformt wie in einem Hotel, zwei Kleeblätter. Und daneben stand ein selbst eingemachtes Apfelgelee. Er aß das Brot, zündete sich eine Zigarette an, trank Kaffee, der sonderbarerweise, wenn man auf Lunge rauchte, stärker nach Kaffee schmeckte. Er begann ein neues Kreuzworträtsel zu lösen. Eine Stadt in Ostpreußen, sechs Buchstaben: Tilsit. Die Stadt gab es schon nicht mehr. Eine literarische Gattung mit N am Anfang und sieben Buchstaben. Wußte er nicht. Ein griechischer Dichter mit H, fünf Buchstaben? Homer. Hin und wieder ging er zum Fenster und blickte hinunter. Frauen schleppten Wasser, andere kamen mit leeren Eimern, und erstmals sah er das Ende der Schlange, dort, wo sich die Frauen anstellten. Dort also, seinem Blickfeld entzogen, stand der Hydrant. Kinder spielten Himmel und Hölle. Er sah die Frau von gestern wieder, diesmal trug sie schwarze Seidenstrümpfe. Ein Unteroffizier kam, sprach sie an. Sie ging mit ihm über die Straße, verschwand aus seinem Blickfeld. Wenig später erschien die Frau an einem der gegenüberliegenden Fenster. Im Hintergrund stand der Mann, der sich die Uniformjacke aufknöpfte. Die Frau zog mit einem Ruck die Gardine zu, und ein Schatten zog sich ein Kleid über den Kopf.
     
    Mittags, als es für zwei Stunden Strom gab, befingerte er das Kabel des Radios, das auf der Anrichte der Küche stand, drückte die beiden Knöpfe durch, schlug drei-, viermal mit der flachen Hand, schließlich mit der Faust auf den Kasten. Aus Tausenden, Hunderttausenden von Volksempfängern wurden gerade jetzt im restlichen Deutschen Reich irgendwelche Durchhaltereden, Frontbegradigungen oder auch nur Schlager übertragen, aber ausgerechnet dieser war kaputt. Er hätte den BBC hören können, dann wüßte er, wo die alliierten Truppen tatsächlich standen. Er schraubte die Rückseite des Geräts ab. Die Röhre war schwarz angelaufen. Vielleicht gab es in der Wohnung ein altes Gerät, aus dem man die Röhre herausschrauben konnte. Er ging zum Wohnzimmerschrank, zögerte, weil er sich sagte, darin könne bestimmt keine Radioröhre sein. Er suchte in der Kammer. Zwischen Schuhen, Kartons, eingemotteten Wintermänteln, zwei abgestoßenen Pappkoffern, einem größeren Pappkarton mit der Aufschrift Christbaumschmuck. Er ging in die Küche zurück, sah im Küchenbord nach, ordnete sorgfältig die durcheinanderstehenden Töpfe und Pfannen. Richtete die Dosen mit den Aufschriften Mehl, Zucker, Grieß sorgfältig in einer Reihe aus. Sie waren, bis auf die Mehldose, alle leer. Längst suchte er nicht mehr eine Radioröhre, sondern er stöberte neugierig in den Ecken der Wohnung, er suchte Spuren von ihr, von ihrem Leben, das er nicht kannte. Zwar sagte er sich, das ist nicht fein, was du da machst, aber dann dachte er, es wäre nützlich, einen Atlas zu haben, er könnte dann genau den Vormarsch der englischen Truppen verfolgen, und das war ein Grund, auch im Wohnzimmerschrank mit einem weniger schlechten Gewissen weiterzusuchen.
    In den linken Seitenfächern stand Geschirr. In den rechten lagen Akten, Familiendokumente, Versicherungskarten, Geburtsurkunden, Lena Brückers Konfirmationsschein: Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Einen Moment zögerte er, kramte dann weiter, ein, zwei Bündel Briefe, daneben ein in roten Rupfen eingebundenes Fotoalbum. Und darunter lag der Schulatlas. Er zog ihn heraus, begann dann aber, wie ich es viele Jahre später tun sollte, in dem Fotoalbum zu blättern. Lena Brücker als Kleinkind auf einem Eisbärenfell, als Kind im gestärkten Rüschenkleid, als Mädchen, einen Blumenkranz im Haar, schwarze Strümpfe, glänzend unter dem knappen Rock, ein junger Mann an ihrer Seite. Auffällig an ihr ist das leuchtend blonde Haar in diesen ja nur aus Schatten bestehenden Bildern. Ein Foto von einer Feier, verwegen sieht sie aus, im Gesicht ein Strahlen, so sitzt sie da, ein kleines Papierhütchen auf dem Kopf, eine Papierschlange um den Hals, ist sie in einem Sessel zurückgesunken, was die Beine – züchtig nebeneinandergestellt – noch länger erscheinen

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