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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Schulatlas auf den Tisch. Erst in diesem Augenblick bemerkte sie, daß er den Atlas aus dem Schrank genommen hatte. Er mußte also gesucht haben, Kammer, Schränke, Truhe und Nachttische durchsucht, denn dieser Atlas lag in der Schrankschublade, ganz unten, und auf ihm die Briefe, ein paar von ihrem Sohn und, säuberlich gebündelt, vor allem die von ihm, Klaus, dem Vertreter für Knöpfe. Wer ist das, fragte ich. Das is, sagte Frau Brücker, ne andere Geschichte. Hat nix mit der Currywurst zu tun. Er wird die Briefe gelesen haben, dachte sie, er hat gekramt und alles gelesen. Und ich kann ihn nicht mal fragen, so eine Frage ist ja ganz albern, und er würde einfach nein sagen, so wie er sie belogen hatte, als sie ihn gefragt hatte, ob er verheiratet sei. Die Brieftasche mit dem Foto hatte einfach dagelegen; er aber mußte in ihrer Abwesenheit ihre Sachen durchsucht haben, was doch wohl einen Unterschied macht. Und er versuchte nicht einmal, eine Erklärung dafür zu geben, daß er den Atlas in der Hand hielt, er stand da, und sie dachte, er steht da wie so viele Männer in Uniform, von denen in den letzten Jahren Fotos und Bilder gezeigt wurden, der Führer, die Oberbefehlshaber der Wehrmacht, der Kriegsmarine gebeugt über Karten, auf Kartentischen unter Leselampen ausgebreitete, zusammengefaltete, auf die ein behandschuhter Finger tuffte, in Kübelwagen, kleine zerknitterte in Schützengräben, im Dreck liegend, da werden die ansetzen, sagte er. Die Engländer, sagte er, betonte immer der kommandierende Admiral, verlieren diesen Krieg auch dann, wenn sie ihn gewinnen würden. Danach ist es vorbei mit dem Weltreich, danach steht der Russe an der Nordsee. Hier werden sie ansetzen, Berlin zurückerobern, dann Breslau, dann Königsberg, eine Zangenbewegung von oben, riesig, Kurlandkessel wird verstärkt, unsere Einheiten laufen aus, endlich unter dem Schutz von Jägern, viele Schiffe sind ja noch intakt. Sie hatte ihn zum erstenmal so erregt, so fremd und so begeistert erlebt, aber dann, plötzlich, ließ er sich ins Sofa fallen, und, es war nicht anders zu sagen, sein Gesicht verdüsterte sich, da zog eine Wolke, eine rabenschwarze Wolke herauf, er denkt jetzt, dachte sie, daß er hier sitzen wird, daß er gar nicht raus kann, nicht am Vormarsch teilnehmen kann. Nicht daß er ein Held gewesen wäre, so hatte er sich selbst nie gesehen, aber es war doch ein Unterschied, ob man kämpfte, wenn sich alles nach vorn bewegte, Siege gefeiert wurden, Sondermeldungen: Dadada, U-Boote im Atlantik, Kapitänleutnant Kretschmer hat 100 000 BRT feindlicher Einheiten versenkt. Eichenlaub mit Schwertern. Les Préludes, oder aber, ob man auf dem Rückzug war, da hieß es doch, irgendwie und möglichst heil die Knochen nach Hause zu bringen.
    Ach so, sagte er, grübelnd, in sich versunken in dem durchgesessenen Sofa, deshalb hört man kein Schießen mehr.
    Sie konnte sich denken, was er dachte, aber nicht aussprach, daß er ja desertiert war, daß er in dieser Wohnung auch weiterhin sitzen mußte, daß er womöglich Monate, vielleicht Jahre hierbleiben mußte, daß es nicht undenkbar war, daß der Krieg gewonnen werden konnte, daß er also gar nicht mehr herauskam. Der aufgeschlagene Atlas lag plötzlich unbeachtet da. Als sie ihn hochnahm, sah sie, daß er sorgfältig die Frontlinien von dem Tag eingetragen hatte, an dem er desertiert war. Im Norden war Bremen eingenommen, die Elbe bei Lauenburg von den Engländern überschritten, die Amerikaner hatten in Torgau den Russen die Hand gegeben. Es war nicht mehr viel übriggeblieben vom Deutschen Reich. Lammers von unten sagte: Der Führer hat einfach nicht auf die Sterne hören wollen. War doch klar, als Pluto und Mars sich kreuzten, da hätte man die V2 auf London, auf die Downing Street schießen müssen. Die Sterne lügen nicht, sagte Lammers. Roosevelt stirbt, ein Deutschenhasser, natürlich Jude. Truman dagegen, der hatte Durchblick. Churchill sowieso, trank zwar viel, hatte aber wohl bemerkt, wo hinein die alle schlidderten. Kommunismus, Bolschewismus. Feind der Menschheit. Alle redeten von der Wende. Wende, das war auch son Wort der Nazis. Die Wende kommt. Bremer, der Bootsmann, sagte: Bei der Wende muß man den Kopf einziehen. Er saß da, ein ängstlicher Schatten lag auf seinem Gesicht, eine Falte quetschte sich fragend auf die Stirn, etwas schief, eine Falte, die sich hochschob, etwas krumm, noch unkonturiert. Ich setzte mich neben ihn auf das Sofa, und er legte den Kopf an

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