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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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meine Schulter, und langsam rutschte sein Kopf runter, aufn Busen, und so hielt ich ihn. Ich dachte, wenn er jetzt anfängt zu weinen, dann sag ich es ihm. Ich streichelte ihm das Haar, das feine blonde, kurzgeschnittene, rechtsgescheitelte Haar. Und langsam, ganz langsam rutschte sein Kopf in meinen Schoß, seine Hand schob er mir unter den Rock, langsam bittend, einmal mußte ich kurz aufstehen, um den Stoff freizugeben.
    Später, auf der Matratzeninsel, lauschte er. Sonderbar, sagte er. Kein Alarm, keine Schüsse. Unheimlich, die Stille. So plötzlich. Und er sagte, was ihm in der Ausbildung gesagt worden war als Ergebnis vieler Jahre Kriegserfahrung im Erdkampf: Auffällig ist immer die Stille. Gestern morgen hatten die Engländer noch den ganzen Tag über die Elbe geschossen. Heute diese beunruhigende Stille.
     
    Sie unterbrach ihr Stricken, hielt das Pulloverteil hoch: Ist der Stamm gut so?
    Dunkelbraun, fast schwarz, ragte der Stamm, der einmal Tanne werden sollte, aus dem Hellbraun der hügeligen Landschaft. Schon zeigte sich das Blau eines wolkenlosen Tages im Tal.
    Kannste den Horizont sehn?
    Ja, sagte ich.
    Aber jetzt wirds schwierig, mit den Zweigen der Tanne.
    Wie machen Sie das?
    Hab früher viel gestrickt. Mal ne Katze vor ner Laterne, mal n kleines Segelschiff. Einmal einen Freiballon. Da könnt ich kaum noch sehn. Und immer wieder Landschaften mit Bergen, Sonne und Tannen. Sogar mit Wolken, hab so richtige Haufenwolken gestrickt. Aber die krieg ich, glaub ich, nicht mehr hin.
    Wie gefällt dir die Landschaft?
    Sehr schön. Vielleicht noch zwei, drei Reihen Blau mit Stamm. Gut, sagte sie und sah über mich hinweg, zählte und setzte mit einem blauen Faden wieder an und führte einen dunkelbraunen mit, der sollte weiter in den Himmel wachsen.
     
    Also, nächsten Tag bat Bremer mich, hinunterzugehen, einen Moment wenigstens. Ob ich nicht ne Radioröhre auftreiben kann.
    Hab ich schon versucht. Nix zu machen.
    Aber sie ging runter, auf die Straße und einmal um den Block. Am Großneumarkt hingen aus den unzerstörten Häusern weiße Laken. Die Engländer hatten eine Ausgangssperre erlassen.
    Sie stieg die Treppe wieder hoch.
    In der dritten Etage, eingequetscht in der eigenen Tür, wartete Frau Eckleben. Ham Se Tommys gesehen?
    Nix.
    Was machen Se denn nachts? Da zittert die Lampe in der Küche, wackelt die Decke.
    War ja dunkel, konnte nicht sehen, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. Ich mach Gymnastik.
    Oben wartete Bremer. Die Straßen sind wie leergefegt. Ausgangssperre.
    Laß uns warten, sagte er, besser still sein, sonst fallen wir nur auf, ist ja schön hier. Ich war fast so groß wie er, war ja mal einsachtzig, er mußte sich nicht herabbücken, Mund zu Mund, Auge in Auge, ohne den Kopf heben zu müssen.
    Sie lagen auf diesem Matratzenfloß, zugedeckt, die Küche konnte man nur kurzfristig so bollerheiß kriegen, daß man einfach nackt liegen konnte, und sie erzählte ihm von ihrem Mann, dem Gary, der eigentlich Willi hieß und Barkassenführer war, sozusagen Kapitän auf einem kleinen Schiff, und Hafenarbeiter über die Elbe setzte, zur Deutschen Werft und zu Blohm und Voss. Wenn die Kinder morgens in der Schule waren, ist sie runter zu den Landungsbrücken, war ja nicht weit, und dann fuhr sie, vorn neben ihm im Steuerhäuschen, mit. Einfach über die Elbe fahren. Der Wind schob die Wellen hoch. Die Barkasse stampfte. Die Gischt schlug gegen die Scheiben. Er nahm sie in den Arm und sagte: Irgendwann fahren wir einfach los, übern Atlantik, fahren nach Amerika, suchen uns ne Insel. Dieses Gefühl: ein Kribbeln im Bauch, Wellen, richtige Wellen sind was Wunderbares.
    Fünf Jahre waren sie verheiratet, da machte Gary auch nachts Fahrten. Zuerst dachte sie sich nichts, und dann an eine Frau. Das Sonderbare war denn doch, daß er, kam er am frühen Morgen zurück, mit ihr schlief. Hab Nachtschicht, sagte er. Ihm gehörte die Barkasse ja nicht, konnte also auch nicht bestimmen, wann er fahren wollte. Verdiente viel damals. Nachtfahrten wurden doppelt gelöhnt. Konnten sie sich was anschaffen: Wohnzimmergarnitur, Schrank, zwei Sessel, Standspiegel und vier Stühle, alles Birke und poliert. Er kaufte sich Anzüge, teure. Englisches Tuch, das Beste vom Besten. Und Schuhe. Amerikanische Schuhe. Der Lord vom Trampgang, so nannten sie ihn in der Nachbarschaft. Ihr war das peinlich. Paßte nicht in die Gegend. Lief rum wie n Direktor, rauchte Zigarren, Loeser & Wolf, auch echte Havannas. Manchmal wurde

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