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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Sie war eingeschlafen. Sie schmatzte im Schlaf. Er legte sich wieder hin. Einmal heulten nachts kurz die Sirenen, so als seufze die Stadt aus einem schweren Traum voller brennender Bäume, flüssigem Asphalt und schreiender Fackeln auf. Er hatte weit oben im Norden auf seinem Vorpostenboot Dienst getan, bis er dank seines Reiterabzeichens versetzt wurde. Reiten, das mochte er. Er mußte nur einem Pferd über die Kruppe streichen, einem Pferd, das geschwitzt hatte, und dann an der Hand riechen; dieser Geruch nach Luft, Pferdeschweiß und Leder, der an der Hand haftete, der erinnerte ihn an Petershagen, an die Weser, dort zogen sich die Wiesen bis an das Ufer, der Fluß drehte sich am Ufer entlang, nicht schnell, aber doch mit einer sichtbaren Strömung mit vielen kleinen Strudeln.
     
    Morgens wachte er auf. Von der Straße hörte er Stimmen. Sogar ein Auto von der Querstraße, kein holzgasgetriebenes, ein anderes Geräusch, leiser als die Diesel. Die Leute sind auf der Straße, sagte er vom Fenster aus. Die Sperrstunde ist aufgehoben. Sie möge doch runtergehen, nachsehen, bitte, gleich. Sofort. Er drängte, als könne er es nicht abwarten, aus der Küche, aus der Wohnung zu kommen. Er ließ ihr nicht einmal Zeit, einen Kaffee zu machen, keine Umarmung. Er stand da, angezogen, als wolle er los, hinaus, wegstürzen, so sah er auf die Brüderstraße hinunter.
    Sie ging zum Großneumarkt. Leute standen herum, sie redeten über die Engländer, die seit gestern in der Stadt waren. Die Stadt war von einem kommandierenden General in grauer auf einen anderen in khakibrauner Uniform übergegangen. Es hatte ein paar Plünderungen gegeben, aber Frauen waren nicht belästigt worden. Allerdings war an Kinder auch keine Schokolade verteilt worden. Wie immer hatten sich Schlangen an den Hydranten gebildet. Jedoch: Es waren keine deutschen Uniformen mehr zu sehen, keine grauen, keine blauen und schon gar keine braunen. Sie ging Richtung Rathausmarkt. Auf der Michaelisbrücke sah sie den ersten Engländer. Er saß auf einem Panzerspähwagen und rauchte. Ein Barett auf dem Kopf, die Pulloverschultern mit Leder besetzt. Ein wenig erinnerte dieser Pullover an ein Kettenhemd. Er trug weite braune Hosen, Gamaschen, Schnürstiefel. Auch in dem Panzerspähwagen saß ein Tommy,  der hatte  Kopfhörer auf und  sprach in ein Funkgerät. Der Mann auf dem Spähwagen hielt das Gesicht in die Sonne. Das also sind die Sieger, dachte sie, sitzen da und sonnen sich. Neben dem Panzerspähwagen saß ein Trupp deutscher Soldaten. Sie saßen auf dem Kantstein. Einer hatte einen Bollerwagen bei sich, darauf lagen ein Rucksack und zwei Tornister. Tornister, wie sie die Reichswehr gehabt hatte, mit Kalbfell bezogen. Es waren ältere Männer. Die Ausrüstung zusammengestoppelt. Dem einen, einem alten Mann mit einem Pflaster auf der Nase, hing eine Wolldecke wie eine riesige Wurst über die Schultern. Unrasiert und müde sahen sie aus. Der Engländer beachtete die Deutschen nicht, die Deutschen nicht den Engländer. Nur daß sie nicht das Gesicht in die Sonne hielten. Die meisten saßen da und starrten vor sich hin. Einer hatte sich den Knobelbecher ausgezogen, die löchrige Socke auf das Pflaster gelegt und pulte sich zwischen den Zehen. Hin und wieder roch er am Finger.
     
    Als sie in die Brüderstraße kam, sah sie den Auflauf vor dem Haus. Nachbarn standen da, Fremde, auch zwei deutsche Polizisten. Und ihr erster Gedanke war, Bremer wird verhaftet. Vielleicht hatte ihn irgend jemand entdeckt, vielleicht aber auch hatte er sich selbst aus der Wohnung gewagt und von Frau Eckleben erfahren, der Krieg ist vorbei. Lena Brücker drängte sich durch die Leute im Treppenhaus hindurch. Frau Claussen stand da und meine Tante Hilde, die unten, in der ersten Etage, wohnte, in deren Küche ich als Kind so gern saß. Der Arme, sagte Frau Eckleben: Er hat die Schande nicht ertragen. Was denn, fragte Lena Brücker, wer denn um Gottes willen und spürte ihr Herz wie einen eisigen Stein. Tante Hilde zeigte zum Wohnungseingang von Lammers, der im Parterre wohnte, wo später der Uhrmacher Eisenhart einziehen sollte. Ein Mann versuchte, die Dohle von Lammers einzufangen, die aus dem offenen Käfig entflogen war und aufgeregt im Zimmer hin und her flatterte. Wo is Lammers? Frau Eckleben zeigte zum Hausgang, dort, im Dunkel, vor der Tür zum Luftschutzkeller, an einem ans obere Treppengeländer geknüpften Seil, hing Lammers. Er hatte seine Blockleiteruniform an, und der

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