Die Entdeckung der Currywurst
in ihrem Leben eine besondere Bedeutung gehabt hatte. Ich wagte nicht, sie zu fragen.
Am Eingang des Bahnhofs ließ ich sie wieder warten, holte den Wagen, hielt, sprang aus dem Wagen, zog sie zum Auto, hinter uns das aggressive Hupen, wir müssen uns beeilen, sagte ich, half ihr, nein, schob sie auf den Sitz, nervös geworden von dem Hupen der ungeduldigen Idioten. Sie sagte nichts, aber ich sah, sie hatte sich weh getan, sich im Rücken etwas gezerrt. Ich fuhr sie ins Heim zurück. Sie sagte, sie sei erschöpft, heute könne sie nichts mehr erzählen. Morgen auch nicht.
Es war der Tag, an dem wir nur ein paar Sätze miteinander gesprochen hatten. Doch als wir durch den Regen gingen, wurde mir unter dem zarten Druck auf meinem Arm die Kraft deutlich, die es diese Frau gekostet hatte, ihr Leben zu leben und dabei ihre Würde zu wahren.
Erst am übernächsten Tag fuhr ich wieder zu ihr nach Harburg hinüber.
In der Zwischenzeit hatte ich einen Freund angerufen, einen Engländer, Ethnologe und Reisender aus Leidenschaft. Ich hatte ihn nach dem Curry gefragt, Götterspeise. Unsinn, Curry, so in Dosen verpackt, das ist McDonald auf indisch, Curry kommt vom tamilischen kari, und das heißt soviel wie Sauce oder Tunke. Dem Essen werden verschiedene Gewürze nach Geschmack abgestuft beigegeben, eine kombinatorische Kunst, die individuell beliebig variiert werden kann. Bei 16 oder gar 20 verschiedenen Gewürzen gibt das schier unendliche Geschmacksvarianten. Ein Mittel gegen die Niedergeschlagenheit? Ja, sagte Ted, der ein überzeugter Rationalist ist, kann durchaus sein. Chili beispielsweise beschleunigt den Kreislauf und damit das Wohlbefinden. Ingwer und Kardamom gelten als Depressionskiller und Aphrodisiaka. Dieser Lachtraum, wenn das eine gute Mischung war, nicht unwahrscheinlich. Er habe einmal einen Curry gegessen und danach geträumt, eine Zibetkatze zu sein, ausgerüstet mit einer fabulösen Duftdrüse. Als er aufwachte, mußte er ins Freie fliehen.
Ich war auch in die Hamburger Staatsbibliothek gegangen, hatte mir die Mikrofilme von den letzten Ausgaben der Hamburger Zeitung bis zum 2. Mai und die erste vom 7. Mai heraussuchen lassen. Ich wollte es nicht glauben, aber der Archivar versicherte mir, es seien dieselben Schreiber gewesen, die noch in der einen Woche von Endsieg und Kampf bis zum letzten Mann geschrieben und in der darauffolgenden die Beschlüsse des britischen Stadtkommandanten interpretiert hatten. Und dennoch, etwas hatte sich in diesen wenigen Tagen verändert. Die Wörter hatten ein wenig von dem wiedergewonnen, was sie bedeuteten. Sie verzerrten die Wirklichkeit nicht mehr derart wie zuvor. Klar doch, sagte der Archivar: Wer die Kapelle zahlt, bestimmt die Musik. All die Begriffe wie Abwehrschlachten, Wunderwaffen, Volkssturm waren verschwunden, und selbst das den Mangel verklärende »Wildgemüse«, das noch am 1. Mai als ausgesprochen schmackhaft gepriesen worden war, hieß nun, sieben Tage nach der Kapitulation, Brennessel und junger Löwenzahn. Das Rezept war allerdings dasselbe. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man Wildgemüse oder einen Löwenzahn-Salat ißt, bei dem man sogleich an Stallhasen denken muß.
Das Leben ging weiter. Irgendwie, sagte Frau Brücker. War einfach schön zu wissen, daß, wenn man nach Hause kommt, jemand auf einen wartet und dann noch alles aufgeräumt ist. Bremer machte, wie bei der Marine gelernt, klar Schiff. Er hatte ja auch sonst nix zu tun. Die Küche war nie so tipptopp, sagte Frau Brücker, wie in der Zeit, als Bremer da oben saß. Die Töpfe waren nach Größe ineinandergestellt, die Griffe in einer Richtung übereinander. Die Schüsseln nach Größe geordnet. Die Pfannen nicht nur abgewaschen, sondern mit Sand ausgescheuert. Die Holzbretter lagen wie Dachziegel gestapelt auf der Anrichte, die Messer gewetzt, blitzten an der Wand. Und sogar der Herd, den sie seit Jahren drinnen nicht geputzt hatte, war so blitzblank, daß sie noch ein Jahr später zögerte, den ersten Braten hineinzuschieben. Bremer stand, wenn sie kam, im Korridor, umarmte sie, sie küßten sich, aber von Tag zu Tag flüchtiger, weil sie die innere Anspannung in seinem Rücken spüren konnte, so stocksteif stand er da, er konnte es nicht abwarten, endlich fragen zu können, was draußen los sei, ob es Zeitungen gäbe, ob sie eine Radioröhre gefunden habe, wo die Front jetzt verlaufen würde. Also mußte sie berichten. Dabei mußte sie nicht viel lügen. Es blieb ja zunächst
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