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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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würde, dachte John, würde ich ihn
sofort erschießen und verzehren. Er erschrak, war aber zu elend, um sich den
Gedanken ganz zu verbieten, und deshalb nahm dieser um so quälender seinen
Lauf: Katzenfleisch, das Köstlichste auf der Welt! John versuchte, für seine
Phantasien eine andere Spur zu legen: Sülze vom Schweinskopf. Aber das Verrätergehirn
machte nicht mit, es ließ die Sülze schmecken wie tripes de
roche und Trims armen Körper wie Kalbsfilet.
    Am 25. September aßen einige der Voyageurs das Oberleder ihrer
Ersatzstiefel, und am nächsten Tag versuchten sie es mit den Sohlen. Auch Hood
probierte das aus. Viel brachte er nicht herunter. Er sah John an, zuckte mit
großer Anstrengung die Achseln und flüsterte: »Reichlich zäh! Wenn ich in
London nächstens wieder Stiefel kaufe …«
    Tagsüber hielt sich Hood noch gut, aber nachts begann er irre zu
reden, von Grünstrumpf und seinem Kind. Ein kleines Mädchen habe er. Zwei
Indianerinnen habe er, eine große und eine kleine. Dann wieder meinte er in
einem Garten zu Hause in Berkshire zu sein und an einem sonnigen Vormittag
Disteln und Brennesseln zu schneiden. »Nicht zum Anhören!« kommentierte
Hepburn.
    Am 26. September stießen sie auf einen großen Fluß.
    John legte seine schwere Zunge zurecht und raunte: »Es ist der
Kupferminenfluß. Wir müssen nur hinüber, dann sind wir schon fast da!« Sie glaubten
ihm erst nach mehr als einer Stunde, daß dies wirklich der Kupferminenfluß war.
Aber jetzt hatten sie kein Boot mehr. »Ein Floß bauen«, murmelte John. Nach
drei Tagen war so etwas wie ein Floß fertig. Aber wie konnte man verhindern,
daß es beim Übersetzen forttrieb? Richardson, der sich einen guten Schwimmer
nannte, versuchte mit einem Seil über den Fluß zu kommen, um, wie er sagte,
»eine Fährstation zu errichten«. Er betete eine Weile, dann zog er sich bis auf
die Unterkleider aus und schwamm los. Aber er erstarrte sofort. Sie zogen ihn
an seinem Seil leblos wieder aus dem Wasser und entkleideten ihn ganz, um ihn
mit Schnee abzureiben. Entsetzt starrten alle auf den nackten Körper, achtzehn
angstvolle Augenpaare in ausgemergelten Gesichtern. Solomon Bélanger war der
erste, der sprach. »Mon Dieu! Que nous sommes maigres!« stöhnte er. Benoit, der
Mann aus St. Yrieix-la-Perche, hatte einen neuen Anfall von Heimweh, er
schluchzte laut, und bald weinten wieder alle. Wenn jetzt das Weinen kam, steckte
es sofort an. Vielleicht sind wir schon zu Kindern geworden und nicht mehr
älter als drei Jahre, dachte John und wischte sich die Tränen ab. Verzweifelt
rieben sie Richardsons Körper. Er kam wieder zu sich, aber sie rieben weiter so
emsig, als wollten sie mit letzter Kraft seine ursprüngliche Gestalt
wiederherstellen und ihm mehr auf die Rippen packen als nur Schnee und Tränen.
    Schneesturm. Das erste Floß riß sich los und verschwand in
den Stromschnellen. Erst mit einem zweiten kamen sie am 4. Oktober über den Fluß.
Jetzt keine weitere Zeit verlieren. »Nur noch vierzig Meilen bis Enterprise!«
John sagte es immer wieder: »Es ist bald überstanden, nur noch vierzig Meilen!«
Aber wie lange brauchte man für vierzig Meilen, wenn man nicht mehr konnte?
Wieviel war dem Willen eines Menschen abzuverlangen? Eigentlich war es die
Aufgabe des Willens, »Weitergehen!« zu befehlen, »weitergehen, nicht sterben!«
Aber immer wieder lief er aus dem Ruder, machte mit dem dummen Körper
gemeinsame Sache und prüfte mit Wichtigkeit die Gründe, die für sofortiges Umsinken,
Schlafen und Sterben sprachen. Der Wille war ein kräftiger, aber eitler und
unverhofft beeinflußbarer Bursche. Plötzlich verkündete er mit Energie und
edlem Trotz: »All dies hier ist einem Menschen nicht zumutbar, jetzt gilt es
den Mut zu einer Pause zu finden!« Sobald aber der müde, elende Körper das
hörte, zögerte er nicht lange – er folgte der Schwerkraft und lag. Gut, daß so
etwas nicht bei allen zur gleichen Zeit passierte!
    Noch war John nicht umgefallen, aber er wußte, daß er nur noch Kraft
hatte, weil er der Commander war. Mein System bewahrt mich nicht vor den
Einfällen des Schicksals, dachte er. Manchmal bin ich für eine Situation der
richtige Mann, manchmal der falsche, und daran kann man sterben. Wir hätten
doch eine Suppe kochen sollen.

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