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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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verschossene oder
übrigbehaltene Munition Rechenschaft abzulegen, und verzehrten heimlich manches
erlegte Wild für sich allein. Nur Solomon Bélanger blieb immer noch ehrlich.
    Â»Jetzt geht es nach einem anderen System«, sagte Back so nebenbei,
»sie haben Gewehre und Munition, wir haben nur Sextant und Kompaß. Und damit
hindert man niemanden am Stehlen.«
    Â»Das System funktioniert«, antwortete John. »Jeder weiß, daß er ohne
uns Navigatoren nicht lebend durchkommt. Und wenn, möchte er als Ehrenmann ankommen.«
    Als Perrault behauptete, nur eine bestimmte Menge Pulver und Blei
mitgenommen zu haben, gab Back ihm gegen alle Beweise recht. Er war wieder
einmal undurchsichtig – welches Spiel spielte er? Wollte er sich bei den
Voyageurs anbiedern? Hielt er, wo er nicht siegen konnte, die Unterwerfung für
besser als die offene Niederlage? Wollte er einen blutigen Aufstand dadurch
überleben, daß er sich schon jetzt als falscher Zeuge anbot?
    John biß die Zähne zusammen und wollte den Gedanken aus dem Gehirn
schieben. Sein System schrieb vor, daß so etwas nicht für möglich gehalten
wurde, bevor es Tatsache war. Aber so sehr er sich dafür schämte – er behielt
den Verdacht zur Sicherheit bei.
    1. September. Hood war jetzt wirklich krank. Daß er die tripes de roche nicht vertrug, war ein Unglück. So verfiel
er nicht nur durch den Widerstand seines Körpers, sondern auch durch den Hunger
mehr als andere.
    Die Kälte nahm zu. Die dicken Schneeflocken hatten noch hübsch
ausgesehen, jetzt gab es nur noch einen trockenen weißen Staub, der unter die
Kleider kroch. Nachts dauerte es über eine Stunde, bis die steifgefrorenen
Decken warm genug geworden waren, um so etwas wie Schlaf zuzulassen. Sie legten
ihre Stiefel unter den Körper, um sie am nächsten Tag vor dem Anziehen nicht
erst auftauen zu müssen. Das nämlich erforderte ein Feuer und damit Holz, das
man erst suchen mußte.
    Der Hunger schuf eine Langsamkeit, die nicht sehend war, sondern
blind. Sie gingen zwar noch vorwärts, sie versuchten noch freundlich oder
zuversichtlich auszusehen, aber sie machten bei den selbstverständlichsten
Dingen Fehler. Sie fuhren mit dem Kanu über den Fluß, ohne etwas mitzunehmen.
Sie starrten auf die näherrückende Kante eines Wasserfalls, ohne zu handeln.
Der Zustand erinnerte an jenes späte Stadium der Trunkenheit, in dem Lust in
Elend umschlägt. Kein Stück Wild. Sogar die Felsflechte war jetzt nicht mehr
leicht zu finden, man mußte erst den Schnee aufgraben. Sie fanden die Überreste
einer Wolfsmahlzeit, halbverrottete Knochen eines Rentiers, die sie
zubereiteten, indem sie sie ins Feuer hielten, bis sie schwarz waren. »Das
nützt nichts«, sagte Junius. »Man muß eine Suppe daraus machen.« John schlug
vor, das zu versuchen, aber die anderen wollten etwas zwischen den Zähnen
spüren. Suppe! Was verstand so ein Eskimo von englischen und französischen
Mägen! John gab ihnen nach. Er hielt die Moral für wichtiger als das Experiment
mit der Suppe. Junius war gekränkt. Er verschwand mit fünfzig Schuß Munition
für immer.
    Die Moral war auch im Gehen. Im Grunde war sie schon längst viele
Meilen weit fort. Es nützte nicht viel, daß die Schwäche ihr in manchen Punkten
ähnlich sah.
    Schritte, immerfort Schritte über eine spurenlose Schneedecke,
die nur durch Flüsse und Seen unterbrochen wurde.
    Es kam John hin und wieder sonderbar vor, daß seine Füße immer
weitergingen, wie ohne sein Zutun, und daß stets der rechte Absatz an den
linken Knöchel stieß – nie umgekehrt, nie anders. Die Schwäche lehrte jeden,
wie schief sein Gestell war. Die Haltung wurde immer gebeugter. Seltsam – war
der Mensch nicht mit geradem Rücken geboren? Die Bärte waren völlig vereist,
ohne ein Feuer waren sie nicht zu befreien. Und sie wogen einiges. So ein
gefrorener Bart konnte einen Mann schon vornüberbeugen. Die Gedanken wurden
dämmriger und flüchteten vor jedem festen Zugriff. Ab und zu geriet einer der
Voyageurs in einen kleinen, kindischen Zorn über nichts – Perrault schrie, er
wolle nicht mehr hinter Samandré hergehen, weil dessen dummer Hosenboden ewig
so blöde hin- und herknicke. Dann wieder stundenlanges Weitertrotten ohne ein
Wort. Plötzlich der Gedanke, man ginge vom Fort weg statt zu ihm hin.
Vielleicht

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