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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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nicht
mehr schützen.
    Â»Der Kapitän der Blossom hätte ein glücklicher Mensch bleiben können
und die Blossom ein glückliches Schiff, hätte man nicht … Habe ich die
Geschichte schon erzählt? Weiß Gott, der Hunger macht einen schwachköpfig!«
Richardson verstummte.
    Ihr Gedächtnis bekam Lücken, und die Kraft reichte nicht für
Betrachtungen und bedeutende Gespräche. Das einzige, was stärker geworden war:
die Fähigkeit zur zügellosen Phantasie. In Fort Enterprise würde köstlicher
Pemmikan auf sie warten, gut abgehangene Rentierhälften, Rum und Tabak, Tee und
Zwieback. Und Hood sprach von Grünstrumpf. Das Kind müsse jetzt da sein.
    Nur weiter, Richtung Südwest, bis sie im Fort waren! Der Hunger
verdrängte alle anderen Sorgen: die Voyageurs zuckten nicht mit der Wimper, als
mitten bei der Überquerung des Coronation Golf auf offener See ein schwerer
achterlicher Sturm die Boote überraschte. Sie kämpften den ganzen Tag, um das
Querschlagen der leichten Kanus zu verhindern, und gegen Abend jagte der Sturm
sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf eine Felsküste zu. Die Seeleute
glaubten an das Ende, die Voyageurs hingegen sahen Land, endlich Land,
Zeltplätze und fette Mahlzeiten. John saß stoisch und trug sorgfältig jede der
Inseln ein, die rechts und links vorbeizogen, und Hood beugte sich über seine
Mappe und zeichnete mitten in der Gischt ab, wie die Felsen geformt waren.
»Karten, Beobachtungen, Berichte und Bilder«, hatte John gesagt. »Wenn wir
anfangen, nur noch an Fleisch und Feuerholz zu denken, kommen wir nicht mehr
sehr weit.« Im Sturm galt Ähnliches. So hielten sie, jeder auf seine Weise, bis
zu einer schützenden Bucht durch, mit der kein Verstand mehr hatte rechnen und
die kaum ein Auge mehr hatte sehen können. Sie landeten in Nebel und Dunkelheit
und sanken um, wo sie gingen und standen.
    Im Traum sah John Bilder von Sturm und Rettung und einen
neugebauten, vorzüglich arbeitenden Bilderwälzer, der all das auf eine Wand
projizierte. Er versuchte, sich die Konstruktion einzuprägen, doch am Morgen
bekam er sie nicht mehr zusammen. Er fühlte aber wieder Kraft: immer wenn im
Traum Maschinen vorkamen, war der Schlaf besonders tief.
    Einige Tage später legten sie an der Mündung eines
Flusses, den John nach Hood benannte, alle überflüssige Last – das waren vor
allem die verbliebenen Geschenke – auf einer Anhöhe nieder und bauten darüber
eine Steinpyramide, auf die sie die englische Flagge steckten. Sie wollten, daß
die Eskimos wenigstens ihren Nachfolgern freundlich begegneten. Dann fuhren sie
den Hoodfluß hinauf, bis ein riesiger Wasserfall sie zum Halten zwang. Zwischen
Felsnadeln und Wänden, die wie gemauert aufragten, stürzte das Wasser in Kaskaden
nieder, ein einsamer, baumloser Ort von feierlicher Schönheit. Das war ein
guter Platz für den Namen des Sklavenbefreiers und das richtige Gegenstück zu
Hearnes Bloody Fall – John trug den Namen Wilberforce zufrieden in die Karte
ein.
    Es war kalt geworden, und nirgends waren Wild oder dessen Spuren zu
entdecken. Der Pemmikan war zu Ende. Junius deutete auf den Felsen: an der
Steinwand wuchs eine schmierige Flechte, die man essen konnte. Sie schmeckte
widerlich, aber sie war besser als nichts. In der Nacht lagen alle wach im
Zelt. Sie merkten, daß man von der Flechte Brechreiz und Durchfall bekam. Hood
litt am meisten, er behielt nichts bei sich.
    Am nächsten Tag, dem 28. August, wieder nur zwei Fische
und ein Rebhuhn, dazu zwei Säcke voll Felsenflechte. Die Voyageurs nannten sie tripes de roche – »Felskutteln«.
    Aus den großen Kanus ließ John jetzt zwei kleinere bauen, die
leichter zu tragen waren und für die Flußüberquerungen ausreichten. Danach noch
zwei Meilen Wegs, sehr mühselig. So endete dieser Tag. Es schneite.
    Keiner der Engländer war ein guter Jäger. John war nicht
schnell und Back nicht geduldig genug, Hood schoß schlecht, und der Doktor war
kurzsichtig. Allenfalls Hepburn hatte hin und wieder Glück. Es war ein Faktum,
daß sie ohne Crédit, Vaillant, Solomon Bélanger, Michel Teroaoteh und die
Dolmetscher schon verhungert wären. Aber je besser ein Voyageur als Jäger war,
desto eher neigte er neuerdings dazu, Befehle zu ignorieren. Tage- und
nächtelang blieben sie dem Lager fern, weigerten sich, über

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