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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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war ihr Schicksal längst beschlossen.
    Warum hatte George Back noch so viel Kraft? War es gerecht, daß
einer, der so eitel und wankelmütig war, so lange durchhielt? Schöne Menschen
hatten oft Kräfte auf ihrer Seite, die nicht leicht einzuschätzen waren. Sie
waren entschlossen, ihre Schönheit über alles hinwegzuretten, das gab ihnen
Zielbewußtsein.
    Zum Abendessen tripes de roche, jedem eine
Handvoll, nach stundenlanger Suche. Graue, faltige Gesichter.
    14. September. Einige Rentiere gesichtet, aber keines
erlegt. Michel war aus Versehen mit seinen vor Aufregung zitternden Fingern an
den Abzug gekommen, ein Schuß hatte sich vorzeitig gelöst, alles war dahin.
Michel weinte vor Verzweiflung, Crédit schloß sich an.
    Hood war weit zurückgeblieben, er kam, von Richardson gestützt,
einige Stunden später bei den Zelten an, wo man schon etwas tripes
de roche geerntet hatte, das Zeug, das er nicht vertrug. »Ich habe mich
ein wenig getummelt«, lächelte er, dann knickte er in den Knien ein und sank
um. Bewußtlos wurde er nicht. Dafür war Hood zu neugierig auf alles, was noch
kam. Zwar konnte er nicht mehr gut zeichnen, aber Auge und Gehirn waren immer
noch mit allem möglichen beschäftigt, nur nicht mit seinem Leiden.
    Perrault griff in sein Gepäck und holte für Hood einige Fleischreste
heraus, von denen er sagte, er habe sie von seinem Anteil in den letzten Tagen
abgespart. Er schenkte Hood die letzte Handvoll Fleisch. Alle neunzehn weinten,
sogar Back und Hepburn. Was machte es aus, wo Perrault dieses Fleisch wirklich
herhatte! Da erschien sie noch einmal, die Ehre der Menschheit, nur kurz zwar,
aber sie war deutlich zu sehen.
    Â»Und ich denke, Junius wird auch wiederkommen!« sagte Augustus. »Er
wird viel Fleisch bringen!«
    Â»Fleisch, ja!« Sie umarmten einander und waren vor Hoffnung wie
betrunken. Bald war man doch zu Hause! Ein Spaziergang!
    So endete der 14. September, ein guter Tag.
    23. September. Peltier, der schon seit Tagen über das
Gewicht des Kanus geklagt hatte, bekam einen Wutanfall und warf es auf den
Boden, so daß einige der tragenden Hölzer splitterten. Er mußte es wieder
aufnehmen und weitertragen, denn noch war es mit etwas Glück zu reparieren.
    Als der Schneesturm einsetzte, drehte Peltier das Kanu so, daß der
Wind hineingriff und es ihm aus den Händen riß. Jetzt mußten sie es endgültig
liegen lassen. Peltier hatte erschreckend wenig Scheu, seinen Triumph zu
zeigen. Das andere Kanu trug Jean Baptiste Bélanger – wie lange noch? John
redete ihm ins Gewissen: »Wir sind auf dem richtigen Weg, aber ohne Kanu sind
wir verloren.«
    Wenig später stellte John fest, daß er nicht auf dem richtigen Weg
war. Der Magnetismus war hierorts unzuverlässig, die Nadel fuhr höhnisch
Karussell. Es kam ein schlimmer Augenblick: der halbverhungerte Commander mußte
der halbverhungerten Mannschaft mitteilen, daß eine Richtungsänderung nötig
war. Es verlangte Mut, und der war jetzt eine große Anstrengung geworden.
    Â»Die Stunde der Wahrheit«, murmelte Back und sah irgendwohin. »Er
hat sich vertan!« zischte Vaillant.
    Â»Wenn ihr so viel von Navigation wüßtet wie ich, würdet ihr euch
nicht ängstigen. Es ist schwierig hier, aber es geht nach Logik und
Wissenschaft.«
    Sie glaubten ihm nur, weil sie mußten. Sie waren zu schwach
geworden, um wirklich an irgend etwas zu glauben. Sie fürchteten jetzt alle,
daß sie sterben würden.
    Hoods Mut war wichtig. Der Midshipman sah aus wie ein Toter, aber
seine Zuversicht beschämte jeden, dem nach Selbstmitleid auch nur entfernt
zumute war. Irgendwie wußten alle: wenn Hood erst starb, war das Ende nicht
weit.
    Als John an einem Seeufer befahl, das Eis aufzuhacken und Fische zu
fangen, fehlten plötzlich sämtliche Netze. Die Voyageurs hatten sie für zu
schwer befunden, sie lagen irgendwo meilenweit hinter ihnen unter dem Schnee.
    Zwei Stunden später stolperte Jean Baptiste Bélanger wie ein
schlechter Schauspieler, dem man gesagt hatte, daß er stolpern solle. Die
Stelle hingegen war gut ausgesucht: sie querten gerade einen steilen Abhang.
Zerschmettert war das letzte Boot! Abends kauten sie an einer halbverwitterten
Rentierhaut, die sie unter dem Schnee herausgekratzt hatten. Es gab hier nicht
einmal tripes de roche und auch kein Feuerholz.
    Wenn ich jetzt Kater Trim finden

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