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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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mußte jemand bei ihm bleiben. Richardson wollte das
tun, er vertraute darauf, daß John vom Fort her Nahrung zurückschicken und sie
beide vor dem Tod bewahren würde. »Nein!« antwortete John. »Ich bin der
Kapitän! Auch bin ich langsamer als Sie. Ich bleibe bei Hood, Sie ziehen mit
allen anderen weiter. Hier sind Kompaß und Sextant.«
    Es war, weil er nicht mehr konnte, nur deshalb. Er hätte mit den
anderen nicht mithalten und sie daher, wie die Dinge jetzt lagen, nicht mehr
führen können.
    Sie bauten eines der Zelte auf und legten Hood hinein. Dann sammelte
der Doktor den Rest der Mannschaft um sich. John schärfte ihnen ein: »Ihr
bleibt zusammen! Wer allein vorausgeht, der ist verloren, weil er sich verirrt.
Er zieht die anderen ins Verderben, die seinen Spuren folgen. Bleibt zusammen!«
    Hepburn trat vor: »Ich bleibe bei Ihnen und Hood!«
    Richardson zog los. John und Hepburn suchten nach Feuerholz, tripes de roche und Wildspuren. Hunger fühlte niemand mehr,
nur Schwäche. Es ging nicht mehr um das Wohlbefinden, nur noch darum, mit viel
Glück zu überleben.
    Hepburn schoß ein Rebhuhn, das sie brieten. Sie fütterten
Hood damit, und er schien sich etwas zu erholen. Für sich selbst fanden sie
eine kleine Menge tripes de roche.
    Nach zwei Tagen tauchte plötzlich Michel, der Irokese, vor dem Zelt
auf. Er habe Richardson um die Erlaubnis gebeten, zusammen mit Perrault und
Jean-Baptiste Bélanger zum Zelt zurückzugehen. Leider habe er die beiden in der
Dunkelheit verloren und ihre Spuren nicht mehr gefunden.
    Das wunderte John, denn es hatte weder geregnet noch geschneit, und
der Wind war ganz abgeflaut.
    Fontano sei wohl auch tot, meinte Michel weiter. Er sei beim
Überqueren eines Sees hingeschlagen und habe sich das Bein gebrochen. Sie
hätten ihn zurücklassen müssen, und er habe ihn bei seinem Rückweg nicht mehr
entdecken können.
    Michel hatte Glück gehabt und einen verendeten Wolf gefunden,
getötet wahrscheinlich durch den Stoß eines Rentierhorns. Er hatte Wolfsfleisch
dabei, sie verschlangen es gierig und lobten den Indianer sehr. Er erbat sich
eine Axt, um noch mehr zu holen. Als er fort war, grübelte John und begann zu
rechnen.
    Â»Woher hat Michel noch so viel Munition? Es ist unwahrscheinlich,
daß Richardson ihm so viel überlassen hat. Und warum hat er jetzt zwei
Pistolen?«
    Als Michel wieder da war und ihnen weiteres Wolfsfleisch vorsetzte,
fragte John ihn nach der Pistole. Michel antwortete, Peltier habe sie ihm
geschenkt.
    Sie aßen gierig weiter und meinten schon zu fühlen, wie die Kraft in
ihre elenden Knochengerüste zurückkehrte. John aber dachte angestrengt nach: er
versuchte sich an etwas zu erinnern. Irgendwann ging er vors Zelt hinaus, um
die inneren Bilder noch ungestörter an seinen Augen vorbeiziehen zu lassen. Als
er wieder hereinkam, sagte er: »Ich achte eben zu wenig auf Einzelheiten! Ich
hätte geschworen, es sei die Pistole von Bélanger.«
    Die anderen starrten ihn sofort entsetzt an.
    Â»Denkt ihr, ich habe ihn umgebracht?« fragte Michel beschwörend.
»Das ist aber nicht wahr!« Plötzlich hatte er die Hand an einer der Pistolen.
    Â»Aber nein«, sagte Hepburn, »das denkt kein Mensch, wie kommst du
denn darauf?« Der Indianer beruhigte sich.
    Aber von dem Wolfsfleisch wollte nun niemand mehr essen.
    Tagelang ließ Michel nicht zu, daß zwei der Briten allein
miteinander redeten. Wenn sie es in seinem Beisein taten, mußten sie eine
Sklavensprache wählen: sie mußten etwas Unverdächtiges sagen, was er verstand,
und damit gleichzeitig anderes mitteilen, was er nicht verstand: »Ob wohl auf
diese Weise noch mehr Wölfe zu Tode gekommen sind?« Die Namen Perrault und
Fontano wagte niemand auszusprechen. Oder: »Wenn ein Rentier vor Wölfen keine
Angst mehr hat, wird es bestimmt noch mehr töten.«
    Michel ahnte aber dunkel, was sie vermuteten und befürchteten. Er
weigerte sich zu jagen, wurde immer tyrannischer und schrieb vor, wer wo zu
schlafen hatte. Aber auch ohne miteinander zu reden, wußten die Weißen: hätte
Michel die Richtung gekannt und mit dem Kompaß umgehen können, dann wären sie
längst tot und, schlimmer noch, sein Proviant gewesen.
    Â»Warum jagst du nicht, Michel?« Aber er weigerte sich.
    Â»Es ist kein Wild da. Wir sollten sofort zum Wintersee aufbrechen.
Mr. Hood

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