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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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können wir ja dann später holen.«
    John überlegte. »Gut. Wir müssen aber erst noch Nahrung und
Feuerholz für ihn sammeln, denn er kann sich ja nicht rühren.« John suchte
jetzt nur noch nach einer Gelegenheit, sich mit Hepburn abzusprechen. Michel
stimmte zu. Alle verließen das Zelt und gingen in verschiedene Richtungen
davon.
    Als John möglichst laut Holz hackte, um Hepburn zu signalisieren, wo
er sei, hörte er aus der Richtung des Zelts einen Schuß. Er kam gleichzeitig
mit Hepburn dort an und fand Hood tot neben dem Feuer liegen. Der Schuß hatte
seinen Schädel durchbohrt. Michel stand daneben. »Mr. Hood hat mein Gewehr
gereinigt, da muß es geschehen sein.«
    Sie begruben Hood mühsam, indem sie ihn mit etwas Schnee bedeckten.
John und Hepburn brauchten sich jetzt nicht mehr lange zu verständigen: warum
ließ Michel seine Waffe zurück, wenn er auf die Jagd ging? Wie konnte der halb
bewußtlose Hood auch nur daran gedacht haben, sie zu reinigen? Vor allem war
der Schuß von hinten in den Kopf gedrungen und vorne wieder heraus: das
Hinterhaupt zeigte Spuren von Pulverschwärze. Längst hatten sie ihre geladenen
Pistolen ständig griffbereit.
    Jetzt war Hood tot, und die Reise konnte fortgesetzt werden. Sie
brachen das Zelt ab, und John bestimmte den Kurs. Bis zum Abend schafften sie
wegen des verstauchten Fußes nur noch zwei Meilen. Zur Mahlzeit dienten Teile
von Hoods büffelledernem Mantel. Michel ließ sie keinen Moment aus den Augen.
    Immer wieder fragte Michel: »Wie viele Meilen noch? In
welcher Richtung liegt das Fort?« »Es ist noch weit«, sagte John. Aber nach
drei Tagen glaubte Michel mit Bestimmtheit einen Felsen wiederzuerkennen, der
kaum einen Tagesmarsch von Fort Enterprise entfernt lag. John schüttelte den
Kopf. »Unmöglich«, sagte er. Am nächsten Morgen kroch der Indianer schon früh
aus dem Zelt und nahm seine Waffen mit. Er wolle versuchen, ein wenig tripes de roche zu sammeln. Dazu war er nie bereit gewesen,
seit sie die Nachhut bildeten.
    Â»Das freut mich«, antwortete John, und Hepburn fügte hinzu: »Du bist
ein guter Mensch und ein Freund.«
    Sie warteten, bis sich draußen die Schritte entfernt hatten. »Er
will nur sein Gewehr laden, er hatte nichts mehr drin!« sagte Hepburn. »Wenn er
zurückkommt, müssen wir schnell sein!« John lud so sorgfältig seine Pistole,
als tue er dies zum ersten Mal. Hepburn sagte: »Wir haben das Fleisch gegessen,
wir sind seine Komplizen, wenn wir ihn nicht sofort töten!« »Zum ersten Mal
reden Sie Unsinn, Hepburn«, antwortete John. »Er will uns töten, das ist der
Grund – mehr Gründe brauchen wir nicht, mehr sind von Übel!« Aber Hepburn
schien immer noch zu fürchten, daß John nicht wirklich abdrücken würde. »Ich
tue es für Sie, Sir – mir fällt es leichter!«
    John hielt seinen Arm in Schulterhöhe zum Eingang hin gestreckt,
dabei aber die Hand so hinter einem Gepäckstück verborgen, daß sie von Michel,
wenn er hereinkam, nicht gesehen werden konnte. Die Pistole konnte mit einer
winzigen Körperdrehung sogleich auf seinen Kopf gerichtet werden, sobald er
auftauchte. In dieser Haltung blieb John, starr und gespannt.
    Â»Nein«, antwortete er, »das mache ich selbst. Zehn Jahre Krieg – was
denken Sie denn, was ich da getan habe? Man tötet nur immer die Falschen.«
    Â»Die Falschen?« Hepburn verstand nicht. »Und Ihr Arm, Sir?«
    Â»Ich kann stundenlang den Arm in die Luft halten«, sagte John, »ich
konnte das schon mit acht Jahren. Er wird sich anschleichen und lauschen. Wir
müssen laut und harmlos reden, sonst schießt er von außen durch die Zeltwand,
weil er merkt, was wir vorhaben.«
    Â»Das wird ein guter Tag heute, Sir!« sagte Hepburn, »ich glaube, das
Wetter spielt auch mit.« Leise fügte er hinzu: »Ich höre ihn!«
    John räusperte sich. »Dann wollen wir langsam aufstehen, Hepburn.
Ich hole Feuerholz …«
    Im selben Moment erschien Michel im Zelteingang, das Gewehr im
Hüftanschlag, er zielte auf John. Hepburn riß seine Pistole heraus, Michel
drehte den Gewehrlauf zu ihm hinüber. Dieses Bild blieb in Johns Augen stehen.
Als nächstes nahm er erst wieder wahr, daß Hepburn seine Hand ergriff und lange
festhielt. Sie sagten minutenlang kein Wort. Als erster sprach Hepburn.

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