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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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hatte er gelesen und
sich an Euklid versucht. Rechnen fiel ihm leicht, wenn keiner drängte. Manchmal
verwechselte er noch plus und minus, er wurde den Zweifel nie ganz los, ob der
Unterschied so kleiner Zeichen wirklich von Belang sei. Die Abdrift von
Schiffen, die Mißweisung des Kompasses, die Mittagshöhe, all das konnte er ausrechnen.
Im Frühjahr sprach er mehr als hundertmal in die hellen Blätter des Baums hinein:
»Sphärische Trigonometrie, sphärische Trigonometrie.« Er wollte den Namen
seines Gebiets fehlerfrei vorbringen können.
    Ein neuer Lehrer sollte kommen, ein junger Mann namens Burnaby.
Vielleicht unterrichtete er Mathematik.
    Navigation: wenn man in Louth dieses Wort gebrauchte, meinte man
damit den Binnenkanal vom Lud zur Humbermündung. Soviel zu Louth! Dabei lag das
Meer nur einen halben Tag weit entfernt. Nach einem neuen Gespräch mit Sagals
widerstand John der Versuchung. Er wollte weiter auf Matthew warten.
    Er wollte auch Tom Barker dazu bringen, in die Marine mitzukommen.
    Ins Heft schrieb John jetzt nur noch englische Sätze zum
eigenen Gebrauch, Erklärungen seines Eigensinns und Zeitsinns, die er notfalls
geläufig wollte abgeben können.
    Atkinson und Hopkinson waren mit ihren Eltern am Meer gewesen. Nein,
auf Schiffe habe er nicht geachtet, sagte Hopkinson. Dafür erzählte er von
Bademaschinen. Das waren Kabinen auf Rädern, die von einem Pferd ins Meer
gezogen wurden, damit der Badende sich ungesehen zu Wasser lassen konnte. Und
daß die Damen in Flanellsäcken badeten. Was Hopkinson eben so alles
interessierte. Atkinson redete ausschließlich von einem Galgen, an dem der
Mörder Keal aus Muckton gehängt worden sei, und dann gevierteilt, und dann den
Vögeln zum Fraß vorgeworfen. »Das ergibt sich aus der Sache selbst«, antwortete
John höflich, aber etwas enttäuscht. Atkinson und Hopkinson waren keine Zierde
für eine seefahrende Nation.
    Andrew Burnaby zeigte meist ein sanftes Lächeln. Er sagte
gleich zu Anfang, er sei für alle da, besonders für die Schwächeren. So sah
John sein Lächeln oft. Es wirkte immer ein wenig angespannt, denn wer für alle
da war, der hatte wenig Zeit. Zu Körperstrafen neigte Burnaby nicht, aber er
hatte den Ehrgeiz, die Zeit auszunutzen. Die Stunden der Sanduhr bedeuteten
nichts mehr, es ging jetzt um Minuten und Sekunden. Für die Antworten auf seine
Fragen setzte er heimlich oder ausdrücklich eine geziemende Zeitgrenze, und was
nicht rechtzeitig kam, mußte nachgearbeitet werden. John überschritt diese
Grenze jedesmal und antwortete oft außer der Reihe unerwartet auf die vorletzte
Frage, denn nichts konnte ihn von einer Lösung abhalten, auch wenn sie schon
ganz unziemlich geworden war. Das mußte besser werden. Ins Phrasenheft schrieb
er: »Es gibt für alles zwei Zeitpunkte, den richtigen und den verpaßten«, und
darunter: »Sagals, erstes Buch, drittes Kapitel«, damit es wie ein anerkanntes
Zitat aussah. Er legte das Heft jetzt nicht mehr unter die Wäsche, sondern
offen obenauf. Sollte Tom es ruhig lesen. Ob er es wohl tat?
    Am Sonntag Jubilate regnete es. John ging mit Bob Cracroft
auf den Jahrmarkt. Es troff von den Zelten, man patschte in die Pfützen. John
war nicht glücklich, denn er dachte an Tom Barker und an sich selbst. Wenn es
den idealen Menschen auch bei uns gibt und nicht bloß in Griechenland, dachte
er, dann hat er lange, helle Glieder, lacht leise und kann so gemein sein wie
Tom. Seit er Tom bewunderte, betrachtete er sich selbst mit Mißfallen. Wie er
daherkam zum Beispiel: breitbeinig, rundäugig, mit schiefem Kopf wie ein Hund.
Seine Bewegungen klebten in der Luft, und sprechen konnte er nur wie die Axt
auf dem Hackklotz. Es gab nicht viel zu lachen, und wenn, dann lachte er zu
lang. Die Stimme war heiser geworden, als krähe ein Hahn aus ihm. Das würde auf
dem Meer keine Rolle spielen. Aber da war noch eine neue Erscheinung, die immer
unerwartet auftrat, eine Schwellung, die nur sehr langsam verschwand.
Ausgerechnet an so einer Stelle auffällig zu werden! John war besorgt. »Das ist
normal«, hatte Bob bemerkt, »Offenbarung, Kapitel drei, Vers neunzehn: ›die ich
liebe, die stelle ich bloß und strafe sie.‹« Es war wieder ein Beweis für die
völlige Unverständlichkeit der Bibel. John sah ins Getümmel des Jahrmarkts mit
dem glasstarren Blick, als gelte es einen

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