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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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war,
daß die Moderatoren den Delinquenten festhielten, als wolle er fortlaufen. John
ignorierte sie ebenfalls. Strafen gab es auch außer der Reihe. Zu spät beim
Gebet, zum Baum nicht abgemeldet, beim Würfeln erwischt: da kam es ad hoc! Im
Siegel der Schule stand: »Qui parcit virgam, odit filium« – »Wer die Rute
spart, haßt das Kind.« Dr. Orme bemerkte, es handle sich um minderes Latein.
Parcere regiere den Dativ.
    Dr. Orme trug seidene Kniehosen, wohnte in einem Haus am Gebrochenen
Genick und machte dort, wie es hieß wissenschaftliche Experimente mit Uhren und
Pflanzen – beides sammelte er mit Eifer. Einer seiner Vorfahren, so sagte man,
habe zu den berühmten »acht Kapitänen von Portsmouth« gehört. Obwohl John nie
erfuhr, was diese Kapitäne getan haben sollten, bekam der zarte Schulmeister
für ihn etwas Navigatorisches, oft sah er ihn sogar als einen auf
geheimnisvolle Weise Verbündeten an.
    Dr. Orme brüllte und prügelte nie. Vielleicht interessierten ihn die
Kinder weniger als seine Uhren. Er ließ die nötige Disziplin vom Unterlehrer
herstellen und kam nur zu den Unterrichtsstunden herüber.
    Mit Menschen wie Stopford wollte John besser umgehen lernen, sie
waren nicht ungefährlich. In den ersten Schultagen hatte er einmal auf eine
Frage Stopfords gesagt: »Sir, für die Antwort brauche ich etwas Zeit!« Der
Unterlehrer war irritiert. Es gab Schülerverbrechen, die selbst ihm keine
Freude machten. Mehr Zeit zu verlangen, das war keine Zucht mehr.
    Thomas Webb und Bob Cracroft führten dicke Notizbücher, in
die sie alle Tage in Schönschrift etwas eintrugen. Auf den Einbänden stand
»Aussprüche und Gedanken« oder »Gebräuchliche lateinische Phrasen«. Das machte
einen guten Eindruck, deshalb begann John ein umfängliches Heft mit der
Überschrift: »Bemerkenswerte Phrasen und Konstruktionen zur Erinnerung« und
trug Zitate von Vergil und Cicero ein. Wenn er nicht darin schrieb, lag das
Heft unter seiner Wäsche in der Truhe.
    Das Abendessen. Nach langem Gebet nur Brot, Dünnbier und
Käse. Fleischbrühe bekamen sie zweimal die Woche, Gemüse nie. Wer in Obstgärten
einfiel und plünderte, kriegte den Stock. In Rugby, erzählte Atkinson, hätten
sie vor zwei Jahren ihren Rektor in den Keller gesperrt. Seitdem gebe es
dreimal die Woche Fleisch im Stück und nur einmal Prügel. »Ist er denn noch
unten?« fragte John.
    In der Flotte hatten sie auch gemeutert, gegen Admirale!
    Der Schlafsaal war groß und kalt. Überall standen die
Namen von gewesenen Schülern, die es zu etwas gebracht hatten, weil sie hier
tüchtig gelernt hatten. Die Fenster waren vergittert. Die Betten ragten frei in
den Raum. Beiderseits zugänglich war jeder Schläfer, keiner konnte sich zu
einer schützenden Wand kehren und sie anstarren oder auf sie hinweinen. Man
tat, als ob man schliefe, bis man schlief. Die Lampe brannte immer. Stopford
wanderte auf und ab und sah nach, wo die Schüler ihre Hände hätten. John
Franklins Reisen unter der Decke fielen nicht auf, er entzog sie dem Auge durch
Gemächlichkeit.
    Oft lernte er auch beim Einschlafen, indem er wiederholte, was er
gelernt hatte, oder er sprach mit Sagals.
    Den Namen hatte er irgendwann geträumt. Inzwischen stellte er sich
einen großen Mann vor, weißgekleidet und ruhig, der von jenseits der Saaldecke
herunterblickte und zuhören konnte, auch bei schwierigen Gedanken. Mit Sagals
ließ sich reden, der war nie plötzlich weg. Er sagte kaum etwas, nur ab und zu
ein einziges Wort, das aber einen Sinn ergab, gerade wenn es ganz außerhalb von
Johns Überlegung stand. Ratschläge gab Sagals nicht, aber an seinem Gesicht
meinte John deutlich zu erkennen, was er dachte. Zumindest, ob es mehr ein Ja
oder mehr ein Nein war. Er konnte auch freundlich-hintergründig lächeln. Das
Beste war aber, daß er Zeit hatte. Sagals blieb immer so lange über dem Saal,
bis John eingeschlafen war. Matthew würde auch bald kommen.
    Auf Navigation verstand er sich jetzt. Mit Gowers »Abhandlung
über Theorie und Praxis der Seefahrt« hatte er angefangen. Im Einbanddeckel war
ein kleines Schiff festgeknüpft, es hatte verstellbare Rahen und ein bewegliches
Ruderblatt. Hier übte John Wenden und Halsen. Das Buch selbst war das Meer, ein
Fahrwasser zum Zuklappen. Moores »Praktischen Navigator«

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