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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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stachen Erebus und Terror erneut in See, diesmal in Richtung
Südwesten. Auch dieses Jahr schien nicht gut zu werden. Der Eisstrom wurde
immer dicker. Mühsam kämpften sich die Schiffe durch aufgetürmte Schollen mit
elender Langsamkeit. Franklin schreckte das nicht.
    Eine gefährliche Meerenge, in der mehrere Treibeisfelder sich
ineinander drängten, nannte Franklin Peel-Sund. Er meinte das nicht unbedingt
als Kompliment an Sir Robert.
    Die Mannschaft arbeitete gut und verließ sich auf Franklin. Ihre
Bereitschaft, Witze zu machen, hatte ein wenig zugenommen, aber noch war es
nicht besorgniserregend. Franklin wußte, wie es sich anhörte, wenn eine
Mannschaft nicht mehr intakt war. Er machte sich viele kleine Sorgen, aber
keine großen.
    Jane Franklin verbrachte den Winter auf Madeira, zusammen
mit Ella und Sophia Cracroft. Im Frühjahr besuchten sie die Westindischen
Inseln. Jane fand Sophias Sorgen um das Schicksal der Expedition etwas
übertrieben und meinte, Ablenkung würde ihr guttun. Ella kehrte nach England
zurück, Jane und Sophia fuhren nach New York.
    Im »Herald« lasen sie eine Anzeige: »Madame Leander Lent gibt
Auskunft über Liebe, Heirat und abwesende Freunde, sie verkündet alle
Ereignisse im Leben. Nr. 169 Mulberry Street, 1. Stock hinten hinaus. Damen 25 Cent, Herren 50. Sie bewirkt schnell eine Heirat, was extra zu zahlen ist.«
Jane, die in London nie den Weg zu einer Wahrsagerin angetreten hätte,
beschloß, man müsse auch dieses Milieu studieren. Sie gingen hin. Madame Lent war
etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schrecklich schmutzig und fast kahl. Im Schein
eines Talglichts, das auf eine Bierflasche gesteckt war, legte sie die Karten
für John Franklin und behauptete, es gehe ihm ausgezeichnet. Er sei eben dabei,
das Ziel seines Lebens zu erreichen. Er würde es aber nicht auf einmal
schaffen, sondern allmählich. Als sie merkte, daß keine Heirat gewünscht wurde,
strich sie enttäuscht ihre 25 Cent ein und erklärte, daß draußen weitere elf
Hilfesuchende warteten.
    Mit Segelkraft allein ging es nicht mehr vorwärts. Das
Treibeis hatte sich zu einer geschlossenen Fläche verdichtet. Die Männer
stemmten sich die Hälfte ihrer Wachzeit ins Bugseil oder hackten und sägten den
Weg frei. Franklin war trotz eines starken Hustens tagelang auf den Beinen und
gönnte sich kaum Schlaf, nur ab und zu ein Spiel Backgammon gegen Fitzjames,
das er regelmäßig gewann.
    Am 15. Juli, Franklin stand eben mit dem Sextanten an Deck und schoß
einen Stern, meinte er aus den Eisfeldern hinter dem Heck der Erebus einen Schrei zu hören, lauter als der Schrei jedes
Menschen. Erstaunt setzte er das Gerät ab und starrte nach achtern. Nichts
Außergewöhnliches war zu sehen. Hinter der Terror schlich das riesige Ei der Sonne am Horizont entlang nach Osten. Tausende von
Schollen ragten wie eine rotgläserne Stadt, aber eine bewegliche, die sich zusammen
mit den Schiffen nach Süden voranfraß und nie damit aufhörte. John sah auf das
glühende Ei am Horizont und dachte: Wieso eigentlich Sonne, was heißt Sonne.
Seine Beine gaben nach. Vorsicht, alles Unsinn, dachte er. Im Fallen
umklammerte er den Sextanten und versuchte ihn zu schützen. Das erste, was er
von Matthew über Sextanten gelernt hatte, war, daß sie nicht fallen durften. Er
verlor das Bewußtsein.
    Als er wieder zu sich kam, lag er in seiner Kajüte auf einer Decke
am Boden und sah in die Gesichter von Fitzjames und Leutnant Gore, die sich
über ihn beugten. Dann kam das des Arztgehilfen Goodsir dazu. Aber er erkannte
diese Gesichter nur, wenn er den Kopf in eine bestimmte Stellung brachte. Die
bisher gewohnte optische Achse seines Gesichts mußte jetzt am Objekt
vorbeiführen, damit er es erfassen konnte. Wie ein Huhn, dachte er verblüfft,
vielmehr, wollte er denken, denn er kam nicht auf all diese Wörter. Er wollte
auch etwas sagen, um den drei Männern ihre Besorgnisse zu nehmen. Was aus
seinem Mund kam, war wohl nicht besonders klar, die Mienen wurden noch
angstvoller. Aber lachen und aufstehen konnte er doch! Er versuchte es. Mit dem
rechten Bein war nichts zu machen. Immerzu sah er weiter das rote Ding am
Himmel und die gläserne Stadt. Die hatte sich doch früher nicht in jedes Bild
gemengt? Und wie hieß dieses Ding, dieses helle Ding? Jetzt wußte er: es war
etwas passiert.
    Irgend etwas

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